Auch eine Flschung kann emanzipatorisch sein
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Auch eine Flschung kann emanzipatorisch sein

An was denkt die Leserschaft von queer.de bei dem Namen «Bilitis» wohl zuerst: an den Softsexfilm von David Hamilton aus dem Jahr 1977 oder eher an die 1955 gegrndete erste lesbische Brgerrechtsorganisation in den USA «Daughters of Bilitis»? Sowohl dieser Name als auch der Filmtitel basieren auf dem Werk «Die Lieder der Bilitis» von Pierre Lous (1870-1925). Er verffentlichte das Werk aber zunchst nicht als seines, sondern gab es als bersetzung eines angeblich antiken Werkes aus. Dass die Flschung schnell entlarvt wurde, tat dem Erfolg von «Bilitis» keinen Abbruch.

Spter schuf Lous mit «Aphrodite» und «Die Abenteuer des Knigs Pausol» weitere Werke, in denen er ebenfalls lesbische Liebe und Leidenschaft behandelte. Pierre Lous hatte einen groen Einfluss auf andere Kunstschaffende, die seine Bcher illustrierten oder auch verfilmten.

Die «Lieder der Bilitis» (1894)

Die Erstausgabe der «Chansons de Bilitis» erschien 1894. Im Folgenden habe ich die bersetzung «Die Lieder der Bilitis» von Franz Wagenhofen (1900) herangezogen. Rund ein Viertel des Gedichtzyklus befasst sich mit lesbischer Liebe und Sexualitt, wobei fast alle lesbischen Beitrge im II. Kapitel «Elegien in Mytilene» (S. 61-107), einige aber auch in anderen Kapiteln zu finden sind (S. 30, 39, 125, 129, 131, 155, 161-162). Zunchst schmt sich die 16-jhrige Bilitis, eine Nacht bei «Psappha» (= Sappho) verbracht zu haben (S. 62). Durch sie und andere Mdchen lernt Bilitis jedoch schnell «den Honig der Liebkosungen des Weibes» kennen (S. 64). Bilitis macht sich Gedanken darber, welcher Freundin sie ihren Mund und ihr Herz schenken mchte (S. 65), und macht ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Frauen: Lippen, die sich mit ihren Lippen vereinigen, Zungen, «die einander erkannte(n)», und Schenkel, die «wie fr einen Liebhaber» nachgeben (S. 68). Ihr wichtigster sozialer und sexueller Kontakt ist der zu Mnasidika, die sie heiratet und danach ber die Trschwelle der gemeinsamen Wohnung trgt. Dabei erwartet Mnasidika Bilitis «wie einen Gatten» (S. 69). Bilitis ist verliebt: in Mnasidikas schne Haare, ihre Brste, ihren Mund und ihre «sdliche(n) Pforte» (S 74). Beide Frauen haben sogar eine gemeinsame Puppe, die sie wie ein gemeinsames Kind in ihr Bett legen (S. 76). Auf einigen Seiten werden ihr leidenschaftlicher Sex (S. 77-79) und der Morgen danach (S. 81) beschrieben. Rund 24 Jahre spter, Bilitis ist nun fast 40 Jahre alt und Mnasidika mittlerweile gestorben, erinnert sie sich rckblickend an diese groe Liebe (S. 162).

Hinweisen mchte ich auch auf die einzige Stelle ber mann-mnnlichen Sex (S. 137): Kleon liebkost gerne junge Mnner, die von Bilitis im Verhltnis zu Frauen als «hlich» bezeichnet werden. Ihre «engen Seiten» werden den weiblichen «ppigen Lenden» gegenbergestellt. Kleon wird als «krank» und verirrt bezeichnet, jedoch knne eine Frau ihn «heilen». Zu diesem Zweck solle er eine Frau aufsuchen, die ihm mit ihrem Hintern «nicht das Vergngen verweigern» werde. Mich befremdet eine solche Form der unterschiedlichen Bewertung gleichgeschlechtlichen Verhaltens von Mnnern und Frauen. Wenn diese Bewertungen auch die persnliche Einstellung Pierre Lous› widerspiegeln, wre sie brigens kontrr zu der Einstellung des Philologen Paul Brandt (1875-1929), der die mnnliche Homosexualitt in der Antike auf- und die weibliche Homosexualitt abwertete (s. dazu meinen queer.de-Artikel).

«Bilitis» als «Flschung» bzw. «Imitation»

In der Erstausgabe der «Chansons de Bilitis» (1894) behauptete Pierre Lous, dass es sich dabei um das Werk einer angeblich bisher unbekannten griechischen Lyrikerin aus dem Umkreis Sapphos handle, das er bersetzt habe. Kerstin Mira Schneider-Seidel («Antike Sujets und moderne Musik: Untersuchungen zur franzsischen Musik um 1900», 2002, S. 124-126) weist darauf hin, dass die Authentizitt der Gedichte bereits 1896 von dem bedeutenden Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff angezweifelt wurde. Gleichzeitig betont Schneider-Seidel, dass die «Pseudoauthentizitt» ein «wesentliches Merkmal von Nachahmungen» antiker Texte sei. Im selben Jahr wurde «Bilitis» in literarischen Zeitschriften als «kecke Fiktion», «durchsichtige Verkleidung, (und als) eine archologische Spielerei» bezeichnet («Magazin fr die Literatur des In- und Auslandes», Jg. 1896, Spalte 1020-1026). Pierrre Lous habe eine bersetzung vorgetuscht, «ohne den geringsten Argwohn seitens des Publikums zu verursachen» («Neue Deutsche Rundschau (Freie Bhne)», Jg. 1896, S. 483). Dieses Lesepublikum wurde im Gegensatz zur Fachwelt noch ein wenig lnger hinters Licht gefhrt. Unter dem irrefhrenden Titel «Lieder der Bilitis. Nach der aus dem Griechischem besorgten bersetzung des Pierre Lous» erschien sogar noch im Jahre 1900 eine Ausgabe (hier online).

Wikipedia bezeichnet die Gedichte als «eine der berhmten Flschungen der Literaturgeschichte». Diese Formulierung tuscht ein wenig darber hinweg, dass die anfnglich falschen Angaben niemand ernsthaft verurteilte. Karl Franke schrieb in seiner Dissertation «Pierre Louys» (1937, S. 26-34), die Publikation als angeblich antike Gedichte sei anfnglich nur «eine Art Scherz» gewesen. Es sei, so Franke, «nicht allzu schwer» gewesen, diese Form der «Pastiche» (= Imitation) als solche zu erkennen. Mit dem Hinweis auf eine als zu streng empfundene Zensur scheint Franke solche Flschungen sogar legitim zu finden: «Im 18. Jahrhundert pflegte man die erotischen Romane anonym oder als eine bersetzung () herauszugeben, um so der Zensur zu entgehen.» Anlsslich einer Neuausgabe von 1923 verwies u. a. der «Remscheider Generalanzeiger» (18. September 1924) in seinem Artikel «Flschungen antiker Schriftsteller» noch einmal auf Pierre Lous› «Scherz» und seine «gar nicht so ernst gemeinte Verffentlichung» hin, auf die auch Journalisten und sogar ein angesehener Philologe hereingefallen seien.

Einfacher als die Frage der Beurteilung des Verhaltens von Pierre Lous ist die Frage nach dem finanziellen Aspekt: Die Flschung bzw. Imitation hat dem Autor, dem Verkauf und der positiven literarischen Beurteilung des Buches nicht geschadet. In den folgenden deutschen Ausgaben «Lieder der Bilitis. Freie Nachdichtung nach Pierre Louys» (1923, 1930) wurde nur der Titel gendert. Nicht nur die literarische Qualitt, sondern auch die positive Auseinandersetzung mit lesbischer Liebe und Sexualitt brachten dem Autor Aufmerksamkeit und Anerkennung ein.

Drei Knstler illustrieren «Bilitis»

Pierre Lous stand u. a. mit Paul Verlaine und Andr Gide in Verbindung und viele seiner Werke regten nicht nur Komponisten und Filmemacher, sondern auch Maler*innen zu eigenen Werken an. Oscar Wilde widmete ihm sein Drama «Salome». «Bilitis» wurde 1977 verfilmt und von verschiedenen Komponisten wie Claude Debussy auch vertont. Nachfolgend stelle ich drei Knstler und drei Knstlerinnen vor, die «Bilitis» illustrierten, und beziehe mich hierzu vor allem auf den Blog des britischen Publizisten John Kruse.

Der belgische Knstler Jean de Bosschre (1878-1953) war von Aubrey Beardsley beeinflusst und illustrierte in den Zwanziger- und Dreiigerjahren des 20. Jahrhunderts erotische Klassiker von Autoren wie Aristophanes und Ovid. Aus seiner Faszination an erotische Themen entstanden auch seine «Bilitis»-Illustrationen von 1928, die Kruse als offen und feinfhlig bezeichnet.

Der franzsische Illustrator Joseph Kuhn-Rgnier (1873-1940) orientierte sich an der griechischen klassischen Kunst, zeichnete griechische Szenen mit antiker Kleidung und Kulisse, die aber modern aussehende und oft selbstbewusste Frauen zeigen. Dazu gehren auch zwlf farbige Illustrationen, die er 1930 zu «Bilitis» schuf.

Der Maler, Grafiker und Illustrator Andr Agricol Michel (1900-1972) war in den Vierzigerjahren Bhnenbildner an der Pariser Oper und arbeitete daneben auch als bildender Knstler. Seine Illustrationen zu «Bilitis» von 1947 bestehen aus zarten Strichzeichnungen, wie die hier gezeigte Darstellung von Bilitis und Mnasidika.

Drei Knstlerinnen illustrieren «Bilitis»

Die franzsische Malerin und Grafikerin des Kubismus Marie Laurencin (1883-1956) war bisexuell, und ihre «Bilitis»-Illustrationen von 1904-1905 knnen als ihr knstlerisch und persnlich bedeutsamstes Werk angesehen werden. Nach John Kruse wurde die Figur der «Bilitis» im Paris des frhen 20. Jahrhunderts von Knstlerinnen und Schriftstellerinnen als Galionsfigur aufgegriffen und sowohl Lous als auch Laurencin bewegten sich in deren Kreisen.

Die sterreichisch-argentinische Malerin und Illustratorin Mariette Lydis (1887-1970) erhielt den Auftrag, eine franzsische Ausgabe von «Bilitis» zu illustrieren, die 1934 erschien. Von einem anderen Verleger erhielt sie 1948 erneut einen Auftrag, diesen Text knstlerisch zu gestalten. Ihre 20 Radierungen zeigen als Variationen der frheren Illustrationen einzelne Frauen und liebende Paare. Auch in Wikipedia wird ausfhrlich darauf eingegangen, wie Lydis in ihren Werken lesbische und bisexuelle Beziehungen thematisierte.

Von der Malerin, Zeichnerin und bersetzerin Jeanne Mammen (1890-1976) stammen zehn bis heute erhaltene Lithografien zu «Bilitis», die 1932 verffentlicht werden sollten, aber nie erschienen. Mammen bertrug die «Bilitis»-Geschichte in eine Lesbenkneipe im zeitgenssischen und damals recht freizgigen Berlin. Aufgrund der deutlichen lesbischen Themen in Mammens Werken konnte sie in der NS-Zeit kaum arbeiten. Ihre «Bilitis»-Darstellungen wurden.

Nach den Angaben von John Kruse gab es insgesamt nur wenige Knstlerinnen, die sich mit «Bilitis» beschftigten. Es handelte sich hier vor allem um knstlerische Auseinandersetzungen lesbischer und bisexueller Frauen mit einem Werk, in dessen Zentrum ein queeres Thema stand wenn es auch von einem heterosexuellen Mann geschrieben und insgesamt berwiegend von Mnnern illustriert wurde.

Die Rezeption und die Zensur von «Bilitis»

«Bilitis» wurde geliebt und gehasst. Zu denen, die «Bilitis» verteidigten, gehrte der Schriftsteller Richard Dehmel, der in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker galt. Zur Verteidigung von «Bilitis» betonte Dehmel: «Im brigen () lasse ich auch in Dingen des Unterleibs Jeden auf seine Faon selig werden» («Les chansons de Biltis». Einleitung und Teilbersetzung, in: «Die Gesellschaft. Mnchener Halbmonatsschrift fr Kunst und Kultur», Jg. 1896, S. 453-461, hier S. 454). Dehmel wandelte damit das geflgelte Wort «Jeder soll nach seiner Faon selig werden» ab, das auf den (angeblich homosexuellen) Knig Friedrich II. von Preuen zurckgeht und sich im Original-Kontext auf religise Toleranz bezog.

Nach einem Urteil des Landgerichts I in Mnchen vom 7. Juni 1910 mussten in allen Exemplare einer deutschen «Bilitis»-Ausgabe von 1907 nicht weniger als 45 Gedichte (von rund 150) unkenntlich gemacht werden («Brsenblatt fr den deutschen Buchhandel», 15. Juni 1910). Weil diese Ausgabe heute auch online verfgbar ist, lsst sich leicht ersehen, dass die meisten der beanstandeten Gedichte lesbischen Inhalt haben. Dabei waren zwlf dieser Gedichte in der betreffenden Ausgabe nicht einmal bersetzt worden (s. Register), wohl in der irrigen Hoffnung, damit einer Zensur zu entgehen.

Spter wurde diese «Bilitis»-Ausgabe von 1907 als eines von insgesamt zwlf Werken des Autors sogar in ein «Verzeichnis der verbotenen Bcher und Zeitschriften» des Zeitraums von 1903 bis Juli 1913 aufgenommen («Brsenblatt fr den deutschen Buchhandel», 12. Januar 1914).

Lous› Werk «Aphrodite» (1896)

«Aphrodite. Murs antiques (= «Aphrodite. Antike Moral», 1896) ist der erfolgreichste Roman von Pierre Lous. Mir liegt zwar die deutschsprachige Ausgabe von 1899 in der bersetzung von Gustav von Joanelli vor. Um meine Zitate besser nachvollziehbar zu machen, beziehe ich mich nachfolgend jedoch auf die Online-Ausgabe des «Projekts Gutenburg», auch wenn dort leider weder das Jahr noch der/die bersetzer*in genannt wird.

In seiner Einleitung weist Pierre Lous recht verschleiernd darauf hin, dass Sappho «einem eigenen Laster den Namen» gegeben habe, womit er auf die sapphische bzw. lesbische Liebe anspielt. Der Roman behandelt in erster Linie die Geschichte der Kurtisane Chrysis und des Bildhauers Demetrius und am Rande auch lesbische Zrtlichkeiten Chrysis› mit ihrer indischen Sklavin Djala (1. Buch, Kap. I). Die deutlichsten lesbischen Textpassagen handeln von den zwei sich liebenden Musikerinnen Rhodis und Myrtocleia («Myrto») (1. Buch, Kap. VI), die beide auch Freundinnen von Chrysis sind. Das Kapitel «Die Einladung» (2. Buch, Kap. V) beginnt damit, dass Chrysis morgens im Bett neben Rhodis und Myrto aufwacht. Der Philosoph Naukrates kommt zu Besuch, sieht die drei Frauen im Bett und spricht davon, dass es «hunderttausende» solcher Frauen gebe, die «ein vollkommenes Vergngen nur mit ihrem eigenen Geschlechte haben». Das lesbische Liebesverhltnis von Rhodis und Myrto steht auch in einigen spteren Kapiteln im Vordergrund: In «Barmherzigkeit» (5. Buch, Kap. IV) trauern die beiden Freundinnen um die tote Chrysis und tauschen sich ber Liebe und Freundschaft aus. In «Piett» (5. Buch, Kap. V) beerdigen sie Chrysis und es wird betont, dass Myrto «nie einen Mann gekannt» habe.

Die Rezeption von «Aphrodite»

Der zeitgenssische Rezensent J. V. Widmann («Anllich eines schlpfrigen Romans», in: «Die Nation», Jg. 1895/1896, Heft 39, S. 593-594) bedauert, dass Pierre Lous «die intimsten» Geheimnisse ausplaudere. «Lesbische Bruche besonders scheinen ihn interessiert zu haben.» Auf diese Weise habe der Autor der «Einfrmigkeit der Natur» durch die «Beschreibung unnatrlicher Laster» zwar etwas entgegengesetzt, aber auch das wirke mit der Zeit «ermdend» und «langweilig». (Er meint damit offenbar das, was andere damalige Autoren als «bersttigung» bezeichneten.) Fr Widmann ist «Scham» (bzw. eine weniger offen zum Ausdruck gebrachte Sexualitt) immer noch ein «Aphrodisiakon» (sexuell grerer Reiz). Auch Paul Bornstein («Boulevard-Hellenismus», in: «Monatsschrift fr neuere Litteratur», Jg. 1897, S. 555-565) uerte sich kritisch: «Das Land der Griechen muss man mit der Seele suchen. Pierre Louys suchte es mit perversen Nerven, er suchte es (), um es in geschlechtlicher Beziehung zu kontrastieren mit dem, was wir Moralbanausen noch immer Zucht und Sitte nennen.» Recht typisch fr die unterschiedliche Beurteilung von Inhalt und Stil erscheint mir die Rezension im «Berliner Brsen-Courier» (4. Juli 1897) zu sein: Bei «Aphrodite» handele es sich zwar um «Schmutz» bzw. «Unsauberkeiten», aber «die Gerechtigkeit zwingt trotzdem auch zur Anerkennung» von Lous› literarischer Leistung.

Karl Franke geht in seiner Dissertation «Pierre Louys» (1937, S. 34-43) darauf ein, wie der Erfolg von «Aphrodite» den Autor ber Nacht berhmt machte, wobei in spteren Ausgaben so Franke erotische Szenen zum Teil weggelassen wurden. Eine Inspiration fr den Autor seien die «Hetrengesprche» des Lukian (die auch eine lesbische Episode enthalten) und Gustave Flauberts Roman «Salambo» gewesen. Nach Frankes Ansicht trgt Demetrius autobiografische Zge des Autors.

Die «Aphrodite»-Illustrationen von Antoine Calbet und Maurice Ray

Die Illustrationen des franzsischen Knstlers Antoine Calbet (1860-1942) spiegeln, so das Urteil des britischen Publizisten John Kruse, deutlich ihre Epoche wider und bringen die zeitgenssische Einstellung zum weiblichen Geschlecht und zur Stellung der Frau in der Gesellschaft zum Ausdruck. Calbets Darstellungen stehen in der Tradition der Aktstudien, die aus der klassischen Kunsttradition hervorgegangen ist. Es lag vor allem an Calbets Illustrationen, dass die deutschsprachige Ausgabe von 1899 in Deutschland der Zensur zum Opfer fiel. Das vermitteln gut die Meldungen im «Brsenblatt fr den deutschen Buchhandel»: Am 3. Januar 1900 beschloss zuerst das Amtsgericht in Breslau die Beschlagnahmungen der Ausgabe (19. Januar 1900) und betonte, dass es dabei vor allem um die «unzchtigen» Bilder von Calbet gehe (3. April 1900). Die Landgerichte in (Wuppertal-)Elberfeld (25. Februar 1903), Nrnberg (5. Juni 1905) und Berlin (22. Oktober 1912) schlossen sich spter mit hnlichen Urteilen an. 1928 landete der Roman auf der Liste der Schmutz- und Schundschriften (6. Dezember 1928). In Frankreich war man offenbar gelassener, von der franzsischen «Aphrodite»-Ausgabe wurden 100.000 Exemplare verkauft (22. Mai 1906).

ber den franzsischen Knstler Maurice Ray (1863-1938) ist nur wenig bekannt. Nach Angaben in der franzsischen Wikipedia schuf er 1931 insgesamt 32 Aquarelle zur «Aphrodite» von Pierre Lous. Auf einem dieser Aquarelle zeigt er drei Frauen bei Zrtlichkeiten im Bett, mit denen nur Chrysis, Rhodis und Myrto gemeint sein knnen. ber Verwendung, Verbleib und Rezeption von Rays Illustrationen konnte ich keine weiteren Angaben recherchieren.

Lous› Werk «Die Abenteuer des Knigs Pausol» (1900)

Die deutschsprachige Ausgabe des Romans «Die Abenteuer des Knigs Pausol» (Originaltitel: «Les aventures du roi Pausole») erschien 1900 in Budapest und damit sogar ein Jahr vor dem Originaltext in franzsischer Sprache, der in Paris 1901 erschien. In diesem Roman verliebt sich die Prinzessin Alice in die Balletttnzerin Mirabelle, die zu dieser Zeit anschaffen gehen muss. Gemeinsam fliehen sie vor unterschiedlichen Konventionen und Zwngen. Auf der Flucht werden sie miteinander intim, wobei Mirabelle von ihrem Krper her als eher mnnlich geschildert wird. Der Page Giglio untersttzt die Frauen bei der Flucht, bis sie entdeckt werden und dies dem Knig gemeldet wird. Der Roman endet damit, dass Alice mit dem Pagen glcklich wird, whrend Mirabelle Trost bei einer neuen Freundin findet. Im «Jahrbuch fr sexuelle Zwischenstufen» (JfsZ, Jg. 1901, S. 446-449) erschien eine ausfhrliche Inhaltsbeschreibung mit einer recht kritischen Beurteilung: «Die geschilderten homosexuellen Beziehungen erheben nicht den Anspruch auf poetische Gestaltung oder psychologische Tiefe oder charakteristische Realistik.» Sie seien fr den Autor nur eine Gelegenheit, «seinen Witz, seinen Humor () glnzen zu lassen». Die Darstellung «grenzt oft fast an Schlpfrigkeit. () Von dem griechischen Klassizismus der ‹Chansons de Bilitis› und der vollendeten, poesievollen Schnheit der ‹Aphrodite› ist in dem Roman wenig, sehr wenig, brig geblieben.»

Das Werk «Die Abenteuer des Knigs Pausol» (1900, hier Ausgabe von 2025, S. 61-62) ist online leider nur in kleinen Auszgen greifbar. Es gibt eine gleichnamige Operette von 1930, die jedoch nur noch selten gespielt wird. Ein gleichnamiger Film von 1933 zeigt zwar das Verhltnis und auch Ksse zwischen den beiden Freundinnen, diese sind im Film aber trotzdem nicht als lesbisches Liebespaar wahrnehmbar.

Die Grnde fr die marginale Rezeption in der frhen Homosexuellenbewegung

Um 1900 bestand die Homosexuellenbewegung aus zwei Flgeln. Zum einen gab es die «Gemeinschaft der Eigenen» (GdE) unter Adolf Brand, die die Zeitschrift «Der Eigene» herausgab. Die frauenfeindliche Ausrichtung dieses Teils der Homosexuellenbewegung fhrte dazu, dass es erst ab dem Ende der Zwanzigerjahre eine sehr geringe Aufmerksamkeit fr Bcher mit lesbischer Thematik gab. Dass dabei auch Pierre Lous erwhnt wurde, kann hier vernachlssigt werden.

Zum anderen gab es das Wissenschaftlich-humanitre Komitee (WhK) unter Magnus Hirschfeld, das das «Jahrbuch fr sexuelle Zwischenstufen» herausgab. Von der ausfhrlichen Rezension von «Die Abenteuer des Knigs Pausol» (s. o.) einmal abgesehen, finden sich hier zu Pierre Lous fast nur bibliografische Erwhnungen seiner Bcher «Bilitis», «Aphrodite» und «L’Esclavage». Auch von diesem Teil der Homosexuellenbewegung blieb Lous weitgehend unbeachtet, wobei hier wohl andere Grnde ausschlaggebend waren. Das WhK wollte in wissenschaftliche und intellektuelle Kreise hineinwirken und deutlichere Hinweise auf erotische Belletristik standen diesem Wunsch vermutlich entgegen.

Die Verfilmung von «Bilitis» (1977)

Pierre Lous hatte auch einen groen Einfluss auf Filmproduktionen. Basierend auf seinen literarischen Werken entstanden in einem Zeitraum von 100 Jahren (1920-2019) bisher 18 Filme (s. IMDB). Dazu gehrt auch «Dieses obskure Objekt der Begierde» (1977), der letzte Film des Regisseurs Luis Buuel. Auf zwei Filme nach Vorlagen von Pierre Lous mchte ich nher eingehen.

Fr den Film «Bilitis» (1977) wurde Lous› Gedichtband «Die Lieder der Bilitis» als Vorlage genommen, die Filmhandlung jedoch in die Gegenwart verlegt. Regisseur des Films war der britische Fotograf und Filmemacher David Hamilton, der mit Werken berhmt wurde, die von Kritiker*innen als kitschig, pornografisch und latent pdophil angesehen werden. In «Bilitis» verbringt die 17-jhrige Schlerin Bilitis ihre Sommerferien bei ihrer Freundin Melissa und es kommt zu einer kurzen lesbischen Romanze. Von dem Werk Pierre Lous› ist in diesem Film kaum mehr als die beiden Vornamen Bilitis und Melissa geblieben. In einem Artikel fr den «Spiegel» (14. April 2009) stellt Daniel Sander gut dar, dass «Bilitis» zunchst ein Kassenschlager war, aber spter, wie auch andere Filme Hamiltons, gechtet wurde: «Vor allem aber war es die verklrende Weichzeichner-Optik, das Markenzeichen von Regisseur David Hamilton, die ‹Bilitis› zum Mega-Seller () werden lie.» Fr Hamilton habe «Bilitis» den «Durchbruch zum Weltruhm» bedeutet. Seine «sehnsuchtsvolle Ikonografie irgendwo zwischen Mdchentraum und Altherrenphantasie (wurde) in den Siebzigern zum festen Bestandteil der Popkultur». Niemand «regte sich vor 30 Jahren ber den bisweilen ins Pdophile abgleitenden Subtext (auf). Heute wirken die Hamilton-Filme alle wieder eher harmlos und ein bisschen albern, eher schmierig als skandals.» Manchmal ist «Bilitis» noch im Fernsehen zu sehen. Sander: «Geht das nicht schrfer, mgen sich da viele fragen, in jederlei Hinsicht.»

Verfilmung von «Aphrodite» (1982)

Der Film «Aphrodite. Im Wendekreis der Begierde» (1982) wurde von Pierre Lous› Roman «Aphrodite» inspiriert. Auf einer griechischen Insel sollen bei einem dreitgigen Fest Aphrodites Liebesrituale nachgestellt werden, wobei die Personen verschiedene sexuelle Beziehungen eingehen und es dabei auch zu einzelnen lesbischen Filmszenen kommt. In einer Szene ist der wohlhabende Waffenhndler Harry Laird (D: Horst Buchholz) zu sehen, der Exemplare von Pierre Lous› «Aphrodite» an die anwesenden Frauen verteilt, damit sich diese auf die anschlieenden sexuellen Rollenspiele vorbereiten knnen. Es ist ein Softsexfilm, der durch seine Bezge zur Kulturgeschichte die eher schlichte Filmhandlung zu legitimieren versucht.

Was bleibt von diesem Autor und seinem Lebenswerk?

Die spontane Reaktion von Lesben auf diesen Autor (und die ihm nacheifernden Knstler*innen) wird vermutlich darin bestehen, zu betonen, dass Lous keine lesbische Lebensrealitt abgebildet, sondern nur heterosexuelle Mnnerphantasien knstlerisch umgesetzt habe. Das stimmt zwar, trotzdem sollten Lous Werke auf queer.de besprochen werden, weil seine Bcher und natrlich auch Kassenschlager wie der Film «Bilitis» mit seinen lesbischen Nebenhandlungen in die Gesellschaft hineinwirkten, das ffentliche Bild von Lesben entscheidend mit beeinflussten und deshalb auch von der queeren Szene aufmerksam verfolgt werden sollten.

Es war bestimmt nicht das Ziel des Autors, mit seinen positiven Textpassagen ber Lesben emanzipatorische Literatur zu verffentlichen, sondern von seinem Ursprung her handelt es sich um Mnnerphantasien fr mnnlich-heterosexuelle Leser. Trotzdem lsst sich konstatieren, dass sich einige lesbische und bisexuelle Frauen mit diesen Werken identifizieren konnten. Das kann heute kritisch gesehen werden, ist aber von emanzipationsgeschichtlichem Interesse.

Eine solche Darstellung von Sex zwischen Frauen fr ein mnnliches heterosexuelles Publikum hatte in der erotischen Literatur eine sehr lange Tradition, die bis zu einzelnen antiken Texten wie Lukian zurckreicht und bis zu heutigen Pornos reicht. Welche dieser Texte und Bilder aus welchen Grnden zu bestimmten Zeiten, unabhngig von ihrer ursprnglichen Intention, auch von lesbischen Frauen positiv rezipiert werden konnten wie es bei Lous› Werken der Fall war ist eine interessante Frage, die eine genauere Untersuchung verdient.