Das Leben Nurejews als politischer Bhnen-Blockbuster
Schon allein die Entstehungs- und Auffhrungsgeschichte des Stcks lsst staunen. Sie verluft alles andere als geradlinig, sie steckt voller Widersprche und Konflikte, sie wird von einer immer schrferen gesellschaftspolitischen Repression begleitet. Die Idee kam einst am Moskauer Bolschoi-Theater auf: Dort sollte eine Produktion ber das Leben des Jahrhunderttnzers Rudolf Nurejews entstehen, der 1961 bei einem Gastauftritt in Frankreich die Gelegenheit zur Flucht in den Westen ergreift, wo er in den folgenden Jahrzehnten das klassische Ballett entscheidend weiterentwickelt und trotz der Folgen einer HIV-Infektion bis zu seinem Tod 1993 knstlerisch aktiv bleibt.
Doch whrend Nurejews tnzerisches Erbe als unbestritten gilt, wird dessen Homosexualitt in Russland seit jeher unter den Teppich gekehrt: eine Praxis, die fr Kirill Serebrennikow, den Urheber des Stcks, freilich nicht in Frage kommt. Als er den Auftrag zur Inszenierung erhlt, hat sich Serebrennikow russlandweit lngst einen Namen als Opern-, Theater- und Filmregisseur gemacht. Allerdings auch damit, dass er bereits 2013 mit einem geplanten Filmprojekt ber das Leben Tschaikowskis in Ungnade gefallen war: Dessen Homosexualitt wollte Serebrennikow nicht aus dem Konzept seines Biopics ausklammern, und so wurden ihm noch vor Beginn der eigentlichen Dreharbeiten die staatlichen Frdergelder gestrichen woraufhin auch noch zwei private Finanziers absprangen. Damals war in Russland soeben das Gesetz gegen «Propaganda fr nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen» in Kraft getreten, das sich vor allem gegen die queere Community richtete.
Urauffhrung ohne den Regisseur
Kirill Serebrennikow outet sich whrend seiner Zeit in Russland nie explizit als schwul, um sich vor Repressionen zu schtzen, aber seine Werke und ffentlichen uerungen offenbaren stets eine deutliche Nhe zu queeren Themen und eine kritische Haltung gegenber der institutionalisierten Homophobie in Russland. Und so zeichnet sich bereits im Vorfeld der «Nurejew»-Inszenierung am Bolschoi-Theater ein entsprechender Konflikt mit den Behrden ab, denen Serebrennikows Arbeit lngst ein Dorn im Auge ist. Auch die russisch-orthodoxe Kirche, die mit Putin ohnehin eine ideologische Allianz bildet, bt mchtig Druck aus.
Nachdem der missliebige Regisseur schlielich 2017 unter dem fadenscheinigen Vorwand der Veruntreuung von Frdergeldern angeklagt und verhaftet wird, ist es bemerkenswert, dass es kurz darauf berhaupt noch zu einer Urauffhrung seines aufwndigen Bhnenwerks kommt wenngleich ohne ihn. Mit einem opulenten Tanzensemble, begleitet von einem groen Orchester, einem Chor, einem Countertenor und anderen Solostimmen, findet «Nurejew» weltweit Beachtung. Es ist ein multimediales Gesamtkunstwerk aus Oper, Schauspiel und Tanz. Allein der Aufbau des Bhnenbildes erfordert am Bolschoi-Theater zwei Schlietage.
Die internationale Kritik reagiert begeistert: Bei der Veranstaltung «Benois de la Danse», die als Oscarverleihung des Tanzes gilt, erhlt das Stck vier Auszeichnungen. Auch das Moskauer Publikum zeigt sich angetan, die Vorstellungen in den darauffolgenden Jahren sind stets ausverkauft. Doch 2023 verschwindet «Nurejew» ber Nacht vom Spielplan des Moskauer Bolschoi-Theaters nachdem auf einer weiteren politischen Eskalationsstufe die internationale queere Community zu einer «extremistischen Bewegung» erklrt wurde.
Intendant Christian Spuck ist ein Coup gelungen
Inzwischen lebt Serebrennikow in Deutschland. Christian Spuck, Intendant des Berliner Staatsballetts, konnte ihn dafr gewinnen, das Stck mit seinem Ensemble auf der Bhne der Deutschen Oper zu inszenieren das verkndeten beide zusammen am 12. Mrz bei der Vorstellung der nchsten Spielzeit. «‚Nurejew‘ wird eine der aufwndigsten Produktionen, die je in Berlin zu sehen waren», freut sich Spuck, dem mit der Aufnahme von «Nurejew» ins Repertoire ein Coup gelungen ist. Auch in Paris oder London hatte man ein Auge auf das Stck geworfen, doch fr den Berliner Intendanten war es eine Herzensangelegenheit, in der deutschen Hauptstadt ein Zeichen fr knstlerische Freiheit und individuelle Selbstbestimmung zu setzen. Zwlf Auffhrungen sind fr die kommende Saison an der Deutschen Oper fest eingeplant: ein Haus, das Nurejew verbunden ist, denn dort gastierte er bereits mehrere Male in den 1970er Jahren.
Auf seine Inszenierung hat sich Kirill Serebrennikow akribisch vorbereitet: «Wenn man knstlerisch frei sein mchte, braucht man Wissen», so der Regisseur. «Ich musste alle verfgbaren Bcher und Quellen ber Nurejew lesen ich kannte ihn als berhmten Tnzer, Flchtling, Immigranten und Anti-Sowjet-Figur, aber darber hinaus wusste ich wenig.» Darum wurde die Nurejew-Recherche fr Serebrennikow zu einer Reise in eine unbekannte Welt. «Ich las ausgiebig, fhrte Gesprche mit Menschen, die mit ihm in Paris gearbeitet hatten, und entdeckte die Komplexitt seines Lebens.» Dazu gehrte auch die Erkenntnis, dass es sich bei Nurejew nicht nur um einen komplexen, sondern auch schwierigen Charakter handelte.
Eine Ikone des 20. Jahrhunderts
Nurejew nimmt in der Geschichte des Balletts einen einzigartigen Stellenwert ein. Er bewirkte die Wiederbelebung des klassischen Repertoires im Westen und verlieh dem athletisch-virilen Tnzertypus durch seine Bhnenprsenz erstmals Bedeutung. «Er revolutionierte das Konzept des mnnlichen Tanzes und die Idee mnnlicher Sexualitt durch Kunst», so Serebrennikow. «Er definierte neu, was es bedeutet, ein mnnlicher Tnzer zu sein, und beeinflusste sogar die Kostme, die mnnliche Tnzer heute tragen».
Aber auch jenseits des Balletts wurde er zu einer Ikone des 20. Jahrhunderts. Viele von Nurejews knstlerischen Facetten offenbarten sich nach seiner Bhnenkarriere, wobei er sich weiterhin auf den Tanz fokussierte. Dabei wirkte er als knstlerischer Leiter und Choreograph und machte auch als Dirigent und als Filmschauspieler von sich reden. Unvergessen bleibt seine Rolle in der Titelfigur von Ken Russells 1977 gedrehtem Biopic ber den tanzenden Stummfilmstar Rudolph Valentino das erste mnnliche Sexsymbol der Filmgeschichte. Und als ein solches galt lngst auch Nurejew.
Kirill Serebrennikow weist darauf hin, dass Nurejew in einer Zeit Bekanntheit erlangte, in der die Massenmedien eine Schlsselrolle spielten: «Neben anderen Hollywood-Prominenten wurde er ein Sensationsthema in den Boulevardblttern und ein TV-Star». Mit allen Folgen, die der Celebrity-Kult mit sich bringt: Nurejew galt als extrem selbstbezogen, stellte seine eigenen Bedrfnisse ber alles andere und schikanierte bisweilen seine Umwelt mit seinem Perfektionismus. Er sei ein «Paradebeispiel fr die Komplexitt der menschlichen Natur, ein brillanter Knstler». Aber heute, so Serebrennikow, wrden wir ihn wahrscheinlich als «toxisch» bezeichnen. Um ein realistisches Werk ber sein Leben zu schaffen, drfe man jedoch nicht zwischen den guten und schlechten Aspekten einer Persnlichkeit trennen. Das Interessante an Biografien seien ja meist ihre ambivalenten Seiten: «Oft sind wir mehr von den kontroversen Figuren fasziniert und bevorzugen manchmal sogar die ‚Bsewichte'».
Nurejew als «queerer, anti-sowjetischer, pro-westlicher Immigrant»
In Serebrennikows Bhnenstck spiegeln sich die vielfltigen sozialen, tnzerischen und sexuellen Verhltnisse Nurejews in groen Ensembleszenen wieder oder auch im Verlesen von Briefen, die an ihn gerichtet waren. Sein Lebensgefhrte war der Tnzer Erik Bruhn, der 1986 verstarb offiziell an Lungenkrebs, vermutlich jedoch an den Folgen einer HIV-Infektion. Nurejews enge Bhnenbeziehung zu Margot Fonteyn, die mageblich fr seine Karriere war, wird genauso thematisiert wie das Leben in der Diktatur, in der er seine knstlerische Ausbildung erhielt.
«Die Produktion zeigte Nurejew als einen queeren, anti-sowjetischen, pro-westlichen Immigranten», sagt Serebrennikow und genau das verleiht dem Stck seine Brisanz. Doch trotz des Skandals und der Kontroversen, die es rund um die Produktion gab, wurde das Stck in Moskau ein berwltigender Erfolg. Oder um es in den Worten von Serebrennikow zu sagen: ein «Blockbuster». Christian Spuck, der im Jahr 2021 am Bolschoi-Theater arbeitete, hat dort mehrere Auffhrungen erlebt und erinnert sich, «Nurejew» sei mit Abstand der grte Triumph gewesen: «Das Publikum applaudierte endlos, und man konnte wirklich sehen, wie sehr die Menschen diese Produktion liebten, obwohl sie im starken Gegensatz zum politischen Klima der Zeit stand.»
Serebrennikow fgt hinzu, dass es damals in Russland ein Krfteverhltnis zwischen «aggressiven, konservativen Elementen und liberaleren Krften» gab und damit sei «Nurejew» zu einem symbolischen Streitpunkt geworden. «Fr einen Moment setzten sich die liberalen Krfte durch, aber spter, mit dem Krieg und dem drastischen Kurswechsel Russlands, scheiterten sie. Aber ich bin berrascht, dass wir die Produktion berhaupt machen konnten, dass es eine Lcke in einer Dunkelheit gab, die uns erlaubte, dies zu schaffen. Es ist absolut mysteris und, sagen wir, ein Wunder.»
Ein Wunder, dessen Wirkmacht dank Christian Spucks Engagement schon bald auf einer Berliner Bhne erlebbar sein wird.
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