Der 175 und das deutsche Gedchtnis der Ausgrenzung
Gesetze sind kein Stein, aus dem man Gesellschaft meielt. Sie sind Spiegel. Und der 175 war ein trber Spiegel: ber hundert Jahre lang zeigte er ein Deutschland, das Angst vor «dem Anderen» hatte und vor dem eigenen Begehren und der Liebe.
Der Paragraf 175 stellte mnnliche Homosexualitt unter Strafe, von 1871 bis 1994. Er berdauerte Monarchie, Republik, Diktatur und Demokratie. Er war elastisch verschrft, reformiert, verdrngt. Aber er blieb. Und das sagt mehr ber Deutschland aus als mancher Leitartikel ber liberale Ordnung.
Seismograf gesellschaftlicher Verunsicherung
Der 175 war nicht nur ein Strafgesetz. Er war ein Seismograf gesellschaftlicher Verunsicherung. Er kriminalisierte nicht nur Taten, sondern Existenzen. Die Vorstellung, dass Liebe etwas Ordnungsstrendes sei, hat ber Generationen hinweg Recht und Moral verbunden gegen das Leben.
In den Jahren der Weimarer Republik war kurz eine andere Zukunft sichtbar: Magnus Hirschfeld sprach von Zwischenstufen, von einem «Dritten Geschlecht», von der Vielfalt des Begehrens. Sein Institut fr Sexualwissenschaft war Zuflucht, Labor, Archiv und wurde 1933 vernichtet.
Eine Geschichte des Schweigens
Die Geschichte danach ist nicht nur die Geschichte der Verfolgung, sondern auch des Schweigens. Der Bundesrepublik, die den Paragrafen bernahm. Der Justiz, die weiter verurteilte. Der Gesellschaft, die schwieg.
Dann, langsam, ein Bruch: Christopher Street Day, Herbert Rusche im Bundestag, die Kieling-Affre. ffentlichkeit. Irritation. Diskussion. Abschaffung.
Der 175 ist ein Prfstein
Ein Land kann sich wandeln. Aber es braucht den Mut, sich seiner Schatten zu erinnern. Der 175 ist Geschichte. Aber er ist kein abgeschlossenes Kapitel. Er ist ein Prfstein fr unser Verhltnis zur Freiheit, zur Krperlichkeit, zur Pluralitt.
Das Recht auf Differenz war nie selbstverstndlich. Es wurde erlitten, erkmpft, erzwungen. Vielleicht sollten wir das fter erzhlen nicht, um uns schlecht zu fhlen. Sondern damit wir verstehen, dass Demokratie nicht durch Mehrheiten lebt, sondern durch die Anerkennung der Abweichung.
