Emotionaler schwuler Theatermarathon in Wien
«Murder on the Dancefloor» ist ein groartiger Ohrwurm. Der Disco-Pop-Hit von Sophie Ellis-Bextor soll 2002 der meistgespielte Song Europas gewesen sein. Doch seine Erfolgsgeschichte war damit nicht vorbei. Im vergangenen Jahr ging das Lied viral, weil er im berraschungs-Erfolg «Saltburn» whrend einer Nacktszene mit Barry Keoghan zu hren ist.
Doch wenn «Murder on the Dancefloor» in «Das Vermchtnis» eingesetzt wird, ist von Feierlaune keine Spur. Der Song folgt auf eine der emotionalsten Szenen und sorgt so fr einen harten, unerwarteten Bruch. Kurz zuvor wird von New York auf dem Hhepunkt der Aids-Epidemie erzhlt, einer «Stadt in Flammen», in der ein schwuler Freund nach dem anderen wegstirbt. Wobei verrecken es wohl eher trifft.
Adam wei nicht, wie er seine Geschichte erzhlen soll
Das sind rhrende Momente, die einem einmal mehr bewusst machen, dass das nicht mal ein halbes Jahrhundert her ist. Und dass diese Zeit doch so weit weg scheint und die berlebenden so wenig prsent sind, weder in der queeren und noch weniger in der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung. Und dann: «Murder on the Dancefloor».
Freundschaft, Liebe, Verlust: Es ist dieser Dreiklang, aus dem die Geschichte besteht, die der junge Adam erzhlen will, die er «Das Vermchtnis» nennen wird. Es gibt nur ein Problem. Er wei nicht, wie er beginnen soll. Also hilft ihm E. M. Forster dabei.
E. M. Forster darf auf der Bhne schwul sein
Forster, der britische Schriftsteller, der seinen groen, explizit schwulen Roman «Maurice» schon 1913/14 schrieb, aber erst 1971 postum verffentlicht wurde. Weil er nie dazu stehen konnte, schwul zu sein.
Der Autor Matthew Lpez nutzt «Howards End» von 1910 und transformiert den Roman in die Gegenwart: Aus der Geschichte heterosexueller Figuren verschiedener Klassen macht er eine von schwulen Mnnern mehrerer Generationen. Und E. M. Forster, liebevoll Morgan genannt, spielt selbst mit in der Adaption seines Romans. Sachte kommentiert er das Geschehen, sagt auch mal seine Meinung oder trifft Vorhersagen wie ein antiker Chor, nur als Einzelkmpfer. Jetzt darf er auch fr die ffentlichkeit schwul sein.
Ficken, fisten, Schwnze
Es geht in «Das Vermchtnis» vor allem um die schwule Clique rund um Eric und Toby, deren Beziehung von Beginn an unter einem Konstruktionsfehler leidet. Der eine sucht Sicherheit, der andere Besttigung. Aber der Sex ist gut, mehr als gut sogar. Als pltzlich der angehende Schauspieler Adam in ihr Leben tritt, bringt er einiges durcheinander: Eric hat jemanden, den er weiterbilden kann, so wie Professor Higgins es mit Eliza Doolittle in «My fair Lady» versucht hat. Und Toby findet jemanden zum Bewundern, Anschmachten, ficken wollen.
Ja, ficken. Es wird viel von ficken und fisten und Schwnzen gesprochen in «Das Vermchtnis». Die Sprache des Stckes ist authentisch und ungefiltert, ohne unangenehm-bemht derb zu sein. Nur gezeigt wird das im Theater in der Josefstadt kaum: Whrend Eric und Toby wilden Sex haben, stehen sie angezogen an verschiedenen Seiten der Bhne. Das klingt vielleicht prde, ist es aber nicht. Der Effekt leidet darunter nicht, im Gegenteil.
Ein Theaterstck wie eine Netflix-Serie
Die Bhne (Silvia Merlo und Ulf Stengl) ist denkbar spartanisch. Nur ein paar schwarze Quader stehen darauf. Dafr wird der Hintergrund oft bunt beleuchtet, er wechselt von tiefblau bis grell orange, je nach Stimmung. Diese Kargheit ist oft vage, ermglicht aber einen groen Interpretations-Spielraum. Und sie lenkt den Fokus ganz auf die Geschichte, unterbrochen nur von sehr gezielt gesetzten Akzenten. Die deutschsprachige Erstauffhrung im Mnchner Residenztheater whlte mit ihrer opulenten Bhne noch einen ganz anderen Ansatz (Theaterkritik von Marvin Wittiber).
Es ist durchaus mutig, eine sieben Stunden lange Auffhrung eine «obszne Lnge», wie der Milliardr Henry einmal augenzwinkernd ber einen Film sagt, aber das Stck meint auf eine so andeutungshaften Bhne zu spielen doch es gelingt.
Das liegt natrlich auch am Text und dessen Dramaturgie. «Das Vermchtnis» ist im besten Sinne kein komplizierter Stoff, er besteht aus gleichen Teilen aus Showing und Telling. Man kann der Geschichte und den Figuren einfach folgen, es gibt ein bestndiges Auf und Ab aus traurigen, frhlichen und lustigen Momenten, kalkulierte Hhepunkte und berraschungen inbegriffen, wenn auch im letzten Viertel weniger. «Das Vermchtnis» fhlt sich eher an, wie vier Folgen einer Netflix-Serie hintereinander zu schauen bei der das Ende ein bisschen zu kitschig im Schnelldurchlauf erzhlt wird.
Der Schock des ersten Trump-Sieges
Die Inszenierung ist die lngste in der Geschichte des Theaters in der Josefstadt, immerhin schon 1788 gegrndet und das lteste noch bespielte Theater Wiens. Obwohl «Das Vermchtnis» schon 2018 uraufgefhrt wurde und seitdem mit Preisen berhuft wurde, kommt es erst jetzt (und drei Jahre nach der deutschsprachigen) zur sterreichischen Erstauffhrung.
«Es ist das richtige Stck zur richtigen Zeit am richtigen Ort», sagt der deutsche Regisseur Elmar Goerden dem ORF zu seiner Inszenierung. Was nach Phrase klingt, ergibt auf den zweiten Blick durchaus Sinn. Denn das Stck von Matthew Lpez spielt whrend des US-Wahlkampfs zwischen Hillary Clinton und Donald Trump. Als der gewinnt, ist der Schock in der liberalen, schwulen Clique enorm. Wie wrde diese Clique heute reagieren angesichts des erneuten Sieges? Wren sie umso geschockter oder bereits resigniert?
Kurzweilige sieben Stunden
Elmar Goerden kann sich auf ein herausragendes Ensemble verlassen, allen voran Martin Niedermayr als sensibler Eric, der sich selbst unterschtzt, und Raphael von Bargen als bemitleidenswertes Arschloch Toby. Nils Arztmann brilliert in seiner Doppelrolle als Adam und Leo, und Marcello De Nardo beweist eine enorme Wandlungsfhigkeit als Arzt Tristan und DJ auf Fire Island.
«Das Vermchtnis» findet in der Josefstadt eine gelungene Balance aus Tragik und Komik, aus politischer Diskussion und dem Nachdenken ber die eigene Verantwortung, aus den Schmerzen, die uns lange begleiten, und der Heilung, die wir suchen. Es sind, auch wenn das schwer zu glauben ist, wenn man es nicht selbst erlebt, kurzweilige sieben Stunden voller Intensitt und schwuler Zeitgeschichte.
Links zum Thema:
Mehr Infos zum Stck, Termine und Karten auf der Homepage des Theaters in der Josefstadt
Mehr queere Kultur:
auf sissymag.de
