Ich bin ein «X». Das ist schn. Und traurig zugleich
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Ich bin ein «X». Das ist schn. Und traurig zugleich

Ich bin 54 Jahre alt und heie Tobias. Oder Ray. Oder Rayanne. So genau kann ich das nicht sagen, meine Identitt ist schwer in Worte zu fassen.

Ich wei, dass ich mit 16 Jahren vor dem Spiegel stand und das Gewucher in meinem Gesicht nicht ausstehen konnte. Ich habe als Kind wahnsinnig viel gelesen und mit Puppen gespielt, fand Fuball doof und halte Autos heute wie damals lediglich fr praktische Blechdosen auf Rdern. In meiner Abizeitung von 1990 steht, dass ich mit den Jungs gar nicht zurechtkam. Ich hielt mich immer bei den Mdchen auf, wenn sie mich duldeten. Ich war schon als Baby etwas zarter, noch nie richtig maskulin und hatte mit gleichaltrigen Jungs keine Gesprchsthemen. Trage seit 40 Jahren Tangaslips auf meinem schmalen Becken und wnsche mir feminine Kleidung fr meine breiten Schultern. Boy George war der Held meiner Jugend. Mich haben weibliche Brste noch nie interessiert und im Anzug und mit Krawatte fhlte ich mich zwar irgendwie nobel, aber verkleidet. Ich bin als Junge geboren und wurde dennoch nie ein Mann. Zumindest nicht das, was die meisten Menschen vermutlich (?) meinen, wenn sie das Wort «Mann» in den Mund nehmen.

Ich bin auch keine Frau. Ich wei nicht, wie es ist, als Frau in dieser Gesellschaft aufzuwachsen. Ich habe keine Ahnung, wie sich ein pubertierendes Mdchen fhlt oder was es bedeutet, ein Kind auf die Welt zu bringen. Ich werde niemals erfahren, wie es ist, eine Frau zu sein.

Femininer Mann? Nichtbinr? Vielleicht bin ich einfach ein Mensch

Ich bin mit einer wundervollen Frau verheiratet, bin Vater von vier groartigen Kindern und einem Stiefsohn. Was bin ich, wenn ich keine Frau bin und kein schwuler Mann, wenn ich ganz anders bin als meine mnnlichen Nachbarn oder die Mnner, die ich durch die Stadt laufen sehe? Ich wurde schon fr die Mutter meiner besten Freundin gehalten und das, obwohl ich kein Make-Up trug. Die meisten sehen in mir einen femininen Mann. Andere kennen den Ausdruck «nichtbinr» und bezeichnen mich so. Transe vielleicht? Schwuchtel? Vielleicht bin ich einfach ein Mensch. Darauf knnten wir uns einigen.

Feminine Mnner wie mich gibt es seit Menschengedenken. Im alten Mesopotamien vor 4.500 Jahren hieen wir Gala und waren Priester. Beim Volk der Navajo heien wir Ndleehi. Und bei den Zapoteken im Sdmexiko nennt man uns Muxe, und wir genieen seit Jahrhunderten gesellschaftliche Anerkennung. Eine lange Liste von Kulturen hat ein sogenanntes drittes Geschlecht identifiziert und in ihre Gesellschaft integriert, im Internet gibt es eine Karte davon. In Europa ist es schwierig. In der neapolitanischen Gesellschaft gibt es seit Jahrhunderten die Femminielli, aber ich habe mir sagen lassen, der Begriff bese im heutigen Italien einen abwertend diskriminierenden Klang.

Offiziell ich sein drfen

Die Ampelregierung war angetreten, trans und nichtbinren Menschen einen einfacheren Zugang zu offizieller Anerkennung zu geben und hat sich fr diese Minderheit ins Feuer gestellt. Jahre hat es gedauert, viele Entwrfe hat es gebraucht, viel Kritik hat das Gesetz einstecken mssen, aber am 12. April 2024 war es soweit. Der Bundestag beschloss ein Gesetz, mit dem ich offiziell ich sein darf: das Selbstbestimmungsgesetz. Auerhalb einer winzigen Bubble versteht zwar niemand, weshalb ein Mensch seinen Vornamen und seinen Geschlechtseintrag ndern lassen mchte, dennoch trat das Gesetz am 1. November in Kraft, und am 5. November sa ich vor einem sehr verstndnisvollen Standesbeamten, der meinen neuen Vornamen und meinen neuen Geschlechtseintrag beurkundete: Rayanne Tobias, divers. Eine Kombination aus meinem weiblichen Wahlnamen und meinem ursprnglichen Geburtsnamen. Ich erhielt zahlreiche Glckwnsche von Freund*innen. Ich solle anstoen, hie es. Doch anstatt nach Champagner sehnte ich mich nach einer warmen Decke und heier Schokolade.

Bei der Namensnderung muss man unterschreiben, dass der gewhlte Name dem Geschlechtsempfinden entspricht und dass man sich der Tragweite der Entscheidung bewusst ist. Aber kann man ermessen, was es wenige Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes bedeutet, mit einem diversen Mischnamen durchs Leben zu gehen? Einerseits freut man sich ber die staatliche Anerkennung und ich habe eine vage Vorstellung, wie sich homosexuelle Paare gefhlt haben mssen, als sie nach Jahrtausenden der Diskriminierung endlich heiraten durften. Andererseits ist es fr Betroffene schockierend unmenschlich, dass das politisch so kompliziert war und in der breiten Bevlkerung Kopfschtteln auslst. Du betrittst ein Standesamt, vor dem Regenbogenflaggen wehen, und der freundliche Standesbeamte nicht die Gesellschaft druckt Dir ein hochoffizielles Blatt Papier aus, welches dein Geschlechtsempfinden reflektiert. Mit Stempel. Das ist schn. Und traurig zugleich. Denn die Gala oder Ndleehi oder Muxe brauchten nie einen Verwaltungsakt und 72 Euro Gebhr, um Gala oder Ndleehi oder Muxe zu sein. Sie waren einfach sie selbst und fr die Gesellschaft, in der sie lebten, war das eine Selbstverstndlichkeit.

Ich bin nun amtlich beurkundet diskriminierungsfhig

Es gibt Lnder, die mich mit einem «X» im Geschlechtseintrag des Reisepasses nicht mehr einreisen lassen. Mit einem «M» wre es kein Problem, obwohl ich dieselbe Person bin. Andere Lnder lieen mich zwar einreisen, aber dort mchte ich mit meinem Reisepass nicht in eine Polizeikontrolle geraten. In Russland gelte ich seit 2023 offiziell als Extremist und wrde wahrscheinlich im Gulag verschwinden. Vielleicht bleibe ich besser zu Hause. Unsere Hochzeitsreise hatten wir nach Marrakesch gemacht. Mit meinem «X» im Pass getraue ich mich nicht mehr in diese wundervolle Stadt. Nach Tunesien, gypten oder die arabische Halbinsel auch nicht. Nicht einmal nach Ungarn wrde ich fahren, wo Menschen wie ich als persona non grata gelten.

Ich habe 1990 in Geschichte Abitur geschrieben und die Weimarer Republik und das Dritte Reich waren meine Schwerpunkte. Weltweit brckeln die Demokratien. Die ehemalige Vorzeigedemokratie USA rutscht seit 20 Jahren ab, in Italien, Ungarn und Slowenien regieren Autoritre, unsere groen Nachbarn Polen und Frankreich stehen vor sehr schwierigen Wahlperioden. Was passiert mit uns unter einer AfD-gefhrten Regierung? Ziehen wie 1938 brandschatzende Trupps durch die Straen und werden die staatlichen Register nach «Extremisten» wie mir durchforstet? Gibt es wieder eine Bcherverbrennung? Wird Hcke dann Kanzler? Nimmt Neuseeland mich auf oder muss ich ins bankrotte Argentinien fliehen? Ich habe am 5. November den wrmenden Mantel einer offiziellen Normalo-Identitt abgelegt und bekomme sicher keinen Persilschein, wenn die braunen Granden die Machtergreifung ausrufen. Ich bin nun amtlich beurkundet diskriminierungsfhig. Das ist der Schatten ber meinem neuen Namen.

Beleidigungen auch ohne Blick in meinen Ausweis

Als Jude in Deutschland, als Mensch mit dunklerer Haut, als Rollstuhlfahrer*in und auch als trans Person kennst du die alltgliche Diskriminierung, die dummen Kommentare, die Angriffe, das Getuschel hinter deinem Rcken und hast damit zu leben gelernt. Nun steht es in meinem Reisepass. Ich kann nicht mehr die Alman-Dad-Klamotte berwerfen, die Ohrringe ablegen, ein bisschen Gel in die Haare schmieren und meinen Mnner-Ausweis zeigen. Ich bin keine blonde arische Frau. Ich bin noch nicht einmal mehr ein alter weier Mann. Ich bin ein «X».

«Beklag‘ Dich nicht, Du hast das selbst gewhlt!», wurde mir gesagt. Das stimmt. Ich habe das Standesamt aufgesucht und von meinem Recht Gebrauch gemacht, als ich anerkannt zu werden. Ich laufe seit Jahren als ich durch die Straen meines Heimatortes. Ich trete als ich in der ffentlichkeit auf. Und der Bundestag bestimmte nun, ich drfe ein «X» sein und den Namen tragen, den Freund*innen und Familie seit Jahren ohnehin verwenden. Der Staat gestand mir offiziell zu, authentisch zu sein. Dafr bin ich den Abgeordneten aufrichtig dankbar.

Niemand kann sagen, was die Zukunft bringen wird und ob am Ende wieder der Hass und die Menschenverachtung mit Fackeln durch die Straen ziehen oder die pluralistische Demokratie stark genug ist, um die nchsten Jahrzehnte Krieg, Rezession, sinkende Reallhne, Flchtlingsstrme, Klimawandel und Hetze zu berdauern. Meine Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ist auch ohne Reisepass offensichtlich, und diejenigen Wildfremden, die mir Flche hinterherrufen oder mich auf der Strae bse anfunkeln, tun dies auch ohne Blick in meinen Ausweis.

Authentizitt als Superkraft einer «X»-Superheld*in

Theodore Roosevelt hielt 1910 in der Sorbonne in Paris eine berhmte Rede zur Rolle der Brger*innen im Staate. Roosevelt sagte: «Der mutige Brger wird sich selbst Freiheit zugestehen und stolz dafr sorgen, dass auch andere die Freiheit erhalten, die er selbst beansprucht.» Vielleicht geht es am Ende genau darum. Vielleicht ist meine Rolle, durch mein Privileg persnlicher Freiheit in einem der ganz wenigen noch freien Lnder dieser Welt auch andere Menschen zu inspirieren, ihren eigenen Weg zu gehen.

Jede einzelne mutige Handlung, die wir setzen, kann dazu beitragen, die Welt wieder ein bisschen menschlicher zu machen. Vielleicht ist Authentizitt die Superkraft einer «X»-Superheld*in, die uns am Ende erlaubt, Brcken zu bauen und Vernderungen anzustoen, die auch anderen Menschen Hoffnung geben. Und so, wie es Personen gibt, die mich ohne mein Einverstndnis als Kuriosum in der S-Bahn fotografieren, so gibt es auch Fremde, die auf mich zugehen und spontan fragen, ob sie mich umarmen drfen.

Ich bin Ray, 54 Jahre alt, verheirateter Papa und ein femininer Mann wie Millionen andere vor und nach mir. Und fr mich drckt eine spontane Umarmung mehr Menschlichkeit und Solidaritt und Akzeptanz aus als alle offiziellen Stempel dieser Welt.