«Ich mchte ein Urning mit Update sein»
In der Schule bin ich gefragt worden: Mit wem bist du schwul? Damals habe ich geantwortet: Ich kann auch alleine schwul sein. Jetzt wrde ich sagen: Ich bin mit denen schwul, die mit mir schwul sein wollen. Ich bin mit denen schwul, die mit mir Homo sein wollen, ich bin mit denen Urning, die mit mir Undinge treiben wollen.
Wahre Qualen, schne Mnner
Auch Ulrichs fngt bei sich an. In einem Brief an seine Schwester erklrt er sich. Er erzhlt ihr, dass er nicht erst in Berlin diese «neue Neigung» an sich entdeckte, sondern dass sie mit dem Eintritt in die Pubertt da war. Auf einem Ball, er ist schon lter, kann er nicht wegschauen: «Aber unter den Tnzern waren etwa zwlf junge, schn gewachsene und schn uniformierte Forstschler.» Sein erster Crush: «Ich htte ihnen sofort um den Hals fallen mgen.» Aber er kann sein Begehren nicht aussprechen, nicht danach handeln. Er ist verwirrt und einsam. «Als ich nach dem Ball zu Bett ging, erduldete ich auf meiner Schlafkammer im Willmann’schen Hause, einsam und von keinem Menschen gesehen, wahre Qualen, lediglich ergriffen von der Erinnerung an jene schnen jungen Mnner.»
Eine Geschichte, die ich gut nachvollziehen kann. Es gibt in der Welt keine Deutungsangebote fr das eigene Empfinden. Wie kann es sich dann realisieren? Niemals, also wird es zu einer nchtlichen Qual und zur Einladung, neue Geschichten zu finden. Ulrichs bleibt die Erinnerung. Aber Ulrichs macht hier nicht halt. Er findet Erklrungsmodelle und damit ist er im 19. Jahrhundert nicht alleine in der griechischen Klassik. Ihre Neubetrachtung dient zur Erklrung der Gegenwart. Ulrichs war damit erfolgreich, denn der Urning blieb keine Privatangelegenheit. Der Begriff wird eine gemeinsame mythologische Grundlage: Urninge wurden auch fr andere zum Begriff, weil sie Trost darin fanden und mehr noch: Anerkennung und Gemeinschaft.
Ich will ein Urning mit Update sein
Meine erste Begegnung mit Ulrichs fand in Bchern statt, obwohl auch er in Berlin lebte. Die Stadt ist ein Palimpsest queerer Geschichte, voller berlagerter Sedimente. Wir mssen nur lernen, sie zu lesen. Von Ulrichs ber Hirschfeld, Charlotte von Mahlsdorf, die Polit-Tunten, den Sonntagsclub bis hin zu Sonntag im Club: Meine Begegnung mit Ulrichs ist nicht nur eine mit einer historischen Figur, sondern auch mit einem geistigen und rtlichen Nachbarn. Ulrichs wird oft als Held dargestellt und manchmal als der erste Aktivist bezeichnet. Ich kenne die Schlagwrter aus seinem Leben: die Rede vor dem Juristentag, das erste Coming-out der Geschichte, seine Auseinandersetzungen mit Medizinern, die Emigration nach Italien. Sein Grab wird noch heute von Pilgern besucht.
Doch ich mchte Ulrichs als Mensch begegnen. Er war ein Mann, der Mnner liebte, ein Nationalist, der ein Deutschland mit einer Rechtsprechung nach seinem Mastab wollte. Ulrichs war ein lebender, fhlender Mensch und keine historische Funktion, die in der Gleichung der Gegenwart aufgeht.
Er war so wenig Aktivist im gegenwrtigen Sinne, wie er queer war, denn diese Begriffe entstanden erst nach ihm und meinen einen anderen kulturellen Kontext. Seine Sprache war ein Schritt, ein wichtiger Schritt. Sein Urningsbegriff mag uns heute unbeholfen oder aus der Zeit gefallen erscheinen, aber er war der Urknall unserer Selbstwahrnehmung Teil einer Revolution, die uns bis heute bewegt.
Autofiktionale Typologie
Zuerst hatte ich keine Sprache fr das, was ich fr andere Menschen fhlte.
Dann fand ich schwul als sich bei «Gute Zeiten, Schlechte Zeiten» das erste Mnnerpaar ksste, flippte meine Oma komplett aus. Nicht aus Freude. Das verstand ich. Aber sie war aufgeregt, als sie sagte: «Die gehren alle ins KZ!» Ich war begeistert. Ich wusste nicht, was ein KZ ist. Aber die beiden kssenden Mnner, die fand auch ich aufregend. Das hatte ich noch nie gesehen. Meiner Mutter hatte ich danach gleich erzhlt, dass alle Schwulen ins KZ gehren. Sie hat mir nie gesagt, was «schwul» bedeutet, aber klar gemacht: Das sagt man nicht. Niemand gehrt ins KZ. Manchmal sagt die Oma komische Sachen.
Dann fand ich homo Ein Homo zu sein, das war irgendwie hot, weil es die Abwertung nahm und sie in was Positives umbaute. Ein Homo ist ein Homo, weil er sich selbst so nennt. Homo hat eine harte Poetik, wie ein harter Schwanz. Ein Homo ist ein Revolutionr. Ein Homo ist Selbstabwertung als Selbstberhhung. Ein Homo ist politisch.
Dann fand ich queer war ich queer und gay gleichzeitig? Hier berlappt sich was. Queer jedenfalls kam aus zwei Notwendigkeiten dazu: Mein akademisches Selbstverstndnis forderte, dass ich mehr als nur schwul war. Ich beschftigte mich mit queer theory, nicht mit gay theory. Die zweite Notwendigkeit: die Mehrsprachigkeit der Grostadt. Queer und gay, irgendwie war das austauschbar. Die Bezeichnungen fransten aus, waren nicht mehr so wichtig. Was queer mit sich brachte: Ein neues Verhltnis zu Geschlecht. Mnnlichkeit? Lsst sich in Frage stellen.
Dann fand ich enby von non-binr, oder n-b, die Buchstaben des Akronyms auf Englisch ausgesprochen. Wenn du mir sagst, du siehst einen Mann in mir, dann kann ich damit leben. Bin ich damit aber zufrieden? Ich dachte lange, das Unbehagen, das hat mit mir zu tun. Das geht nicht weg.
Dafr gibt es keine Sprache. Bis mich eine trans maskuline befreundete Person nach meinen Pronomen fragte und ich sagte: er und they. Das non-binre Pronomen they, oder eingedeutscht dey, fhlt sich an wie ein Pyjama, fhlt sich an wie ein Kleidungsstck, das so bequem ist, ich will es nie wieder ausziehen.
Was, wenn ich mir einen Begriff aus der Vergangenheit aneigne?
Was, wenn ich ein Urning bin? Was, wenn ich Ulrichs nicht nur in Bchern, sondern auf der Strae begegnen wrde? Wrden wir uns in die Augen schauen und einander erkennen? Als Urninge, als Kinder der Aphrodite Urania? Ulrichs kann uns etwas ber die Gegenwart beibringen, mehr noch: Er kann uns die Zukunft erffnen.
Wir haben uns selbst geboren
Ulrichs spricht zu einer Zeit, in der es noch kein geeintes Deutschland gibt, sondern viele deutsche Lnder. Ulrichs spricht zu einer Zeit, in der Preuen versucht, sich als Gromacht zu etablieren. Damit ging auch die Gefahr einher, dass die preuische Rechtsprechung auf ein geeintes Deutschland bertragen wird. Die sah fr die widernatrliche Unzucht Zuchthaus vor, immerhin war die Todesstrafe bereits im 18. Jahrhundert abgeschafft worden. Die liberalere Rechtsprechung, wie sie nach der Franzsischen Revolution in Frankreich und nach und nach in einigen deutschen Lndern gngig wurde, schaffte es nicht ins Deutsche Kaiserreich. Stattdessen bekamen wir den Paragrafen 175, der vom Kaiserreich ber die Weimarer Republik, ber das Dritte Reich bis in die beiden Deutschlands der Nachkriegszeit hineinreichen wrde.
Aber Ulrichs hatte eine Idee. Er formulierte als erster den Gedanken, dass wir aus unserem Begehren eine Identitt machen knnen. Sie ist noch immer radikal. Aus dem Unsittlichen, das gegen die Werte der (brgerlichen) Gesellschaft verstt, das abgestraft werden muss und aus einer Minderwertigkeit herauskommt, wird eine Perversion, eine Verdrehung, aber eine natrliche Verdrehung. Ulrichs gelingt ein poetisches Kunststck: Mit seinem Vokabular hebt er uns ins Kosmische. Als Urninge, dem Himmelsgott Uranos beziehungsweise der Aphrodite Urania verwandt, ist unser Eros der himmlische Eros. Als Kinder der Aphrodite Urania stehen wir fr die Anziehung, die nicht auf den Krper gerichtet ist, sondern auf den Geist. Eine ziemliche berhhung, doch Ulrichs brauchte die Erhhung, um sich abzugrenzen, um sich und seine Gemeinschaft der Urninge zu veredeln. Er ging in die Argumentation:
Damit passt Ulrichs ins 19. Jahrhundert mit seinen Erklrungen und Begriffen, mit seinem Bedrfnis, alles zu systematisieren und zu erfassen. Er argumentiert nicht nur auf der Ebene der Erfahrungen, denn er sagt, wir wissen niemals, was andere erfahren, aber er hebt die Debatte ins Rationale. Es gbe keinen Grund, mannmnnliches Begehren zu kriminalisieren.
Ulrichs spricht hier aus Erfahrung, denn er hat selbst unter der moralischen und sittlichkeitsschtigen Gesellschaft gelitten. Gerchte um seine Affren beendeten seine berufliche Laufbahn, doch er machte daraus eine Karriere. Was hat er gesehen? Hatte Ulrichs Angst, dass eine Ausweitung der preuischen Rechtsprechung auf die liberaleren deutschen Lnder eine Kriminalisierung von Sexualitt zementieren wrde?
Kevin Junks Antworten auf diese Fragen sowie fnf weitere Aufstze ber Karl Heinrich Ulrichs sind im Jubilumsband «Invictus Unbesiegt» nachzulesen. Das Buch sowie viele weitere spannende nicht-heteronormative Romane, Bildbnde und DVDs sind unter anderem erhltlich im Salzgeber.Shop. Die Verffentlichung der Leseprobe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Mnnerschwarm Verlags.
Mehr zum Thema:
Buchkritik von Christopher Filipecki: Der erste Aktivist (27.07.2025)
Mehr queere Kultur:
auf sissymag.de
