Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe
«Ich msste mich zunchst nach den Grnden fragen, die das Collge de France bewogen hat, ein, ich wrde sagen, unsicheres Subjekt aufzunehmen.» Mit diesem Satz erffnete Roland Barthes am 7. Januar 1977 seine Antrittsvorlesung in Paris. Kaum ein Selbstportrt ist treffender. Barthes, 1915 geboren, war ein Denker, der die Unsicherheit kultivierte: nicht aus Schwche, sondern als Methode.
Unsicherheit bedeutete fr ihn Beweglichkeit. Barthes war nie nur Literaturwissenschaftler, nie nur Philosoph, nie nur Essayist. Er bewegte sich in bergngen zwischen Analyse und Poesie, zwischen wissenschaftlicher Nchternheit und literarischem Begehren. Wer ihn in eine Disziplin zwingen wollte, verstand nicht, dass sein Denken gerade aus der Weigerung erwuchs, sich festzulegen.
Der Mythenjger
Berhmt wurde Barthes in den 1950er Jahren durch ein schmales Buch: «Mythen des Alltags». Es sammelte kurze Essays ber scheinbar banale Phnomene ein Automodell, Plastik, der Ringkampf -, die er als Trger moderner Ideologien entlarvte. «Ich glaube, dass das Auto heute das genaue quivalent der groen gotischen Kathedralen ist», schrieb er ber den Citron DS. In diesem Blick auf das Alltgliche zeigte sich Barthes‘ Genie: Er erkannte die Religion des Konsums, wo andere nur Fortschritt sahen.
Das Werkzeug dafr war die Sprache. Sie war ihm zugleich Faszination und Verdacht. In seiner Antrittsvorlesung bekannte er: «Die Sprache ist faschistisch. Denn Faschismus heit nicht, am Sagen hindern, es heit zum Sagen zwingen.» In dieser Formulierung verdichtet sich sein lebenslanges Misstrauen gegen die Macht der Zeichen. Fr Barthes war Sprache kein neutrales Medium, sondern eine Gewalt, die Wirklichkeit formt, ein System, das uns zwingt, auch da zu reden, wo wir schweigen mchten.
Vom Strukturalismus zum Subjekt
Lange galt Barthes als Strukturalist, als Meister einer Theorie, die nach verborgenen Mustern suchte. Doch in den 1970er Jahren vollzog er eine Wende. Er wandte sich ab vom System, hin zum Subjekt, von der Analyse zur Lust. Schreiben erschien ihm nicht mehr als nchterne Entschlsselung, sondern als Ort der Freude. «Ich gestehe dem Schreibakt eine enorme Macht zu», sagte er 1975 im Radio. «Dann, nach und nach, kristallisierte sich eine nacktere Wahrheit heraus: dass man schreibt, weil man es liebt.»
In dieser Haltung entstand 1977 sein berraschender Bestseller: «Fragmente einer Sprache der Liebe». Ein Buch, das sich weigert, eine Geschichte zu erzhlen, und stattdessen aus Bruchstcken besteht aus Karteikarten, Miniaturen, Gedankenblitzen. Ein Lexikon der Leidenschaft, geboren aus persnlichem Schmerz: Barthes hatte die Zurckweisung eines Studenten erlitten, und aus dieser Wunde formte er Theorie.
Es war eine Revolution: Pltzlich sprach der Philosoph nicht mehr nur ber Mythen oder Sprache, sondern ber das Begehren selbst. Und er tat es nicht in der Logik des Systems, sondern im Rhythmus des Fragments.
Muttersohn und Trauernder
Wer Barthes verstehen will, muss seine Biografie lesen wie ein Subtext. Der Vater fiel im Ersten Weltkrieg, bevor der Sohn ihn kennenlernen konnte. Die Mutter, Henriette, wurde sein Mittelpunkt. Sie war Gefhrtin, Vertraute, erste Leserin eine fast symbiotische Beziehung, die Barthes‘ Leben prgte.
Als sie 1977 im Alter von 84 Jahren starb, erschtterte das sein Gefge. Er pflegte sie in den letzten Monaten selbst und blieb nach ihrem Tod zurck wie entwurzelt. In seinen Notizen taucht nun die Trauer als Hauptthema auf. «Verzweiflung: das Wort ist zu theatralisch, es hat teil an der Sprache», schrieb er. Sprache, die ihm zuvor Mittel der Analyse war, erschien nun als Barriere als etwas, das den Schmerz nur in Klischees bersetzt.
Doch aus diesem Verlust erwuchs eine neue Poetik. Wie Proust hoffte er, dass der Tod der Mutter ihn zu einer Literatur fhren wrde, die dem Unaussprechlichen Gestalt gibt. Er begann mit einem «Tagebuch der Trauer», einer Sammlung von Splittern, die eher an fotografische Schnappschsse erinnern als an Erzhlung. Das Subjekt erschien hier nicht mehr als Konstruktion der Sprache, sondern als verletzbares Ich.
Homosexualitt als Codierung
Barthes lebte seine Homosexualitt in einem Frankreich, das dafr keine ffentliche Sprache hatte. Er war Liebhaber junger Intellektueller, Teil einer «Zweitfamilie», die ihn zugleich sttzte und spiegelte. Doch er outete sich nie. Sein Begehren erschien in Umwegen, in Anspielungen, in der Wahl seiner Themen. In den USA wurde er so zum Vordenker der Queer Studies: ein Philosoph, der Homosexualitt nicht aussprach, sondern als Schreibweise lebte in Brchen, in Masken, in der Lust am Verborgenen. Sein Denken war ein Denken des Begehrens gegen das Normative, gegen das Eindeutige, gegen die Zensur des Subjekts. In den Fragmenten, in der Lust am Maskenspiel, in der Weigerung, das Eigene eindeutig zu formulieren, liegt sein queerer Impuls.
Am 25. Februar 1980 verlie Barthes eine Einladung zum Mittagessen, als er beim berqueren der Rue des coles von einem Lieferwagen angefahren wurde. Die Verletzungen schienen nicht lebensgefhrlich, doch er starb vier Wochen spter. Ein banaler, beinahe absurder Tod und doch passend fr einen Denker, der den Zufall immer als Komplizen verstand.
Die Aktualitt des Fragenden
Roland Barthes bleibt ein schillernder, widersprchlicher Autor. Der brillanten Klarheit seiner Begriffe «Tod des Autors», «Mythen des Alltags» steht die Verletzlichkeit eines Menschen gegenber, der sich selbst als «unsicher» begriff. Seine Texte bewegen sich zwischen Theorie und Literatur, zwischen Analyse und Begehren.
Heute, im Zeitalter digitaler Bilder und algorithmischer Mythen, ist Barthes so aktuell wie nie. Er zeigt, dass jedes Bild eine Falle sein kann, dass jedes Wort Macht trgt, dass das Subjekt nicht in Eindeutigkeit lebt, sondern in Bruchstcken. Und er lehrt, dass Philosophie nichts anderes ist als die Liebe zur Unsicherheit.
Roland Barthes war vieles: Muttersohn, homosexueller Intellektueller, Mythenjger, Poet des Fragments. Doch vor allem war er ein Philosoph, der uns lehrt, dass Denken nicht in Gewissheit beginnt sondern im Schweben.
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