Unerhrtes und Unbekanntes von Karl Heinrich Ulrichs: Die Homo­sexuellen-Skandale
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Unerhrtes und Unbekanntes von Karl Heinrich Ulrichs: Die Homo­sexuellen-Skandale

Ulrichs berichtete in seinen Schriften regelmig ber die Skandale seiner Zeit. Seine Texte und auch die Zeitungsmeldungen, auf die sich Ulrichs bezieht, knnen verdeutlichen, wie negativ die damalige Gesellschaft gegenber Homosexuellen eingestellt war und wie Homosexuelle gegen ihren Willen mit voller Namensnennung in den Blickpunkt der Zeitungen gezerrt wurden. Diese Skandale waren oft die einzigen Anlsse, die die Zeitungen berhaupt zu Berichten ber Homosexualitt veranlassten. Homosexuelle Mnner wurden meistens darauf reduziert, dass sie gegen das Strafrecht verstieen.

Nachfolgend gehe ich auf mehr als 20 kleinere und grere Skandale ein, die sich durch andere online verfgbare Quellen besttigen lassen. Sie verdeutlichen die Welt, in der Ulrichs lebte und in der es kaum positive Identifikationsmglichkeiten gab. Weil es in erster Linie nicht um die Ereignisse selbst geht, sondern darum, welche Bedeutung sie fr Ulrichs hatten, bin ich vor allem auf die Skandale eingegangen, die auch Ulrichs ausfhrlich kommentierte.

Es gab zwei Skandale, die in Ulrichs‘ Leben eine besondere Rolle spielten. Ab 1862 setzte er sich fr homosexuelle Interessen ein. Ulrichs‘ Biograph Hubert Kennedy («Karl Heinrich Ulrichs. Leben und Werk», 2. Auflage 2001, S. 75) weist darauf hin: «Das Ereignis, das ihn dazu veranlate, war wohl die Tatsache, da Johann Baptist von Schweitzer () unter dem Vorwurf, unsittliche Handlungen begangen zu haben, festgenommen wurde.» Ulrichs und der sozialdemokratische Politiker Schweitzer kannten sich vermutlich persnlich. Sieben Jahre spter wurde ber den Fall des Sexualstraftters Carl von Zastrow breit diskutiert. Weil sich Zastrow vor Gericht auf Ulrichs bezog und dessen Schriften lobte, wurde Ulrichs indirekt in diesen Skandal mit hineingezogen. Die Ereignisse um Schweitzer und Zastrow werde ich daher ausfhrlicher behandeln.

Meistens wurde auch der homosexuelle Zusammenhang besttigt

Viele der von Ulrichs thematisierten Ereignisse habe ich entweder in den von ihm angegebenen oder in anderen Zeitungen besttigt bekommen, die ebenfalls den homosexuellen Hintergrund erwhnen. Diese Quellen sind wichtig fr die schwule Geschichtsforschung, weil nun diese Skandale auf breiterer Basis dokumentiert werden knnen.

Dazu gehren auch kleinere Skandale: So berichtete Ulrichs (IX: 147) ber den 26-jhrigen Franz W., der im Juni 1869 verhaftet wurde, nachdem er (veruntreutes) Geld fr Sex mit einem Mann ausgegeben hatte (s. «Neues Wiener Tagblatt», 1. Juli 1869). Ulrichs‘ Hinweis auf die Untersuchung gegen den Pfarrer Rmeler (VIII: 20) habe ich in «Der Wchter» (19. Mrz 1869) besttigt gefunden, seinen Hinweis auf die Verurteilungen von Andreas Neudasti und August Wlach (IV: XI) u. a. in der «Neuen Freien Presse» (28. September 1864). Ulrichs erwhnt (VII: 93), dass sich der wrttembergische Prinz Friedrich (1754-1816, der sptere Knig von Wrttemberg) «unnatrlichen Lastern» hingegeben habe. Der von ihm zitierte Artikel aus der «Neuen Wrzburger Zeitung» ist inhaltlich bereinstimmend mit einem Artikel in der «Neuen Freien Presse» (4. Mrz 1868).

Die Hinweise auf einen homosexuellen Hintergrund in den Zeitungen beweisen nicht unbedingt, dass die beschuldigten Mnner auch alle homosexuell waren. So wurde der vermutlich heterosexuelle Regierungsrat Seestern-Pauli das Opfer einer Erpressung, weil Erpresser glaubten, ihm Homosexualitt vorwerfen zu knnen.

Manchmal ist Ulrichs fr den homosexuellen Kontext die einzige bekannte Quelle

Manche der von Ulrichs erwhnten Skandale lassen sich durch Zeitungsmeldungen zwar besttigen, diese gehen aber nicht immer auf den homosexuellen Hintergrund ein, wie zum Beispiel bei dem Maler Allard oder dem Bauern Peter Keller (siehe unten). Damit ist Ulrichs, zumindest fr diesen Aspekt, die einzige bisher bekannte valide Quelle.

Weitere Beispiele hierfr sind Ulrichs‘ vage Angaben ber einen Pariser «Liebesclub», der nur aus Mnnern bestanden haben soll (IV: X-XI), was durch einen Artikel in der «Neuen Freien Presse» (25. Oktober 1864) besttigt wird. Einige Jahre spter wurde ber zwei junge Mnner berichtet, die im Mai 1869 in eleganter Damenkleidung ein Wiener Theater besuchten und von einem Polizisten abgefhrt wurden. Das «Neue Wiener Tagblatt» (11. Mai 1869, S. 4′, unten Mitte) sah diesen Auftritt im Kontext von Fasching oder einer «Wette», whrend Ulrichs schrieb (X: 62-63), «[n]ach mir direct gewordner Mitteilung» habe es sich um den «bekannten Trieb der Weiblinge» gehandelt.

Der Priester Jakob Morell (Marell) verging sich ber Jahrzehnte an Schlern (1698)

In der Schrift «Enthllungen ber Lehren und Leben der katholischen Geistlichkeit» (1862, S. 40-64) des ehemaligen katholischen Theologen Johann Anton Theiner wird beruhend auf lteren Berichten die Untersuchung gegen den Jesuitenpater Jakob Morell im September 1698 geschildert. Morell, Lehrer am Jesuitengymnasium in Augsburg, wurde von der Ordensleitung beschuldigt, sich mehrfach an seinen Schlern vergangen zu haben. Diese Beschuldigungen werden ausfhrlich und deutlich geschildert. Ein Schler gab zu Protokoll, Morell habe sich ihm mit «zrtlichen Kssen genhert, habe () nach und nach die Knpfe und Schleifen seiner Unterkleider geffnet und seine ruchlosen Hnde an seine Schamtheile gebracht». Danach habe sich der Pater entblt, die Vorhnge zugezogen und die «krperliche Vermischung» vollzogen (S. 51). Auch mit einem anderen Schler soll sich Morell «vermischt» haben. Als jemand anklopfte, «trockneten sie ihre befleckten Krper» ab (S. 53). Ulrichs gibt den Inhalt dieser «Enthllungen» wieder (IV: 10-11) und weist darauf hin, dass Morell wegen dieser «Liebesverhltnisse» (VIII: 20; IX: 25) leider keinem weltlichen Gericht berantwortet wurde (XII: 29).

Auch in Bernd-Ulrich Hergemllers biografischem Lexikon «Mann fr Mann» (2010, S. 841) wird dieser Fall erwhnt, wo neben einer Stelle bei Ulrichs auch auf das Buch von Karl von Lang eingegangen wird, das Theiner als Quelle nutzte. Die Namensschreibung bei Theiner, Ulrichs und Hergemller ist jedoch fehlerhaft: Es handelte sich um den Jesuitenpater Jakob Marell (1649-1727), der durch das Verfahren gegen ihn vor allem in der antikatholischen Literatur bekannt wurde. Weil Marell von 1698 «bis zu seinem Tod fast jhrlich versetzt wurde, ist von fortdauernden Missbrauchstaten auszugehen» (Wikipedia).

Aus Wollust biss Julius Pellanda andere in die Backen (1713)

Johann Anton Theiner erwhnt in seinen «Enthllungen ber Lehren und Leben der katholischen Geistlichkeit» (1862, S. 73, Fall 31) unter anderem auch, dass 1713 der Magister Julius Pellanda «auf so unbndige Weise mit Knaben sich einlie, da er aus Wollust sie wie unsinnig in die Backen bi». Als sich Ulrichs auf diese Stelle bezieht, werden aus den Knaben zuerst «die jungen Mnner», die von Pellanda «in die Backen» gebissen worden seien (IV: 3), whrend er an anderen Stellen richtig von «Knaben» spricht (VIII: 54; IX: 55). Ulrichs‘ erstes, sinnentstellendes «Zitat» ber «die jungen Mnner» fand Eingang in Hergemllers biografisches Lexikon «Mann fr Mann» (S. 913).

ber einen Berliner Homosexuellen-Prozess (1837)

Den Hinweis in der «Berliner Gerichtszeitung» (12. September 1878, rechte Spalte) kann man sehr leicht berlesen. Hier ist die Rede von einem groen Berliner Prozess im Jahr 1837, der «bis in die hchsten Kreise» hineingereicht habe, und auch vom 1070 des zu dieser Zeit gltigen «Allgemeinen Landrechts fr die preuischen Staaten» (1794, S. 1328). Dieser Paragraph behandelt neben strafbaren homosexuellen Handlungen zwar auch sexuelle Handlungen mit Tieren, solche sind jedoch nicht gemeint, wie der Hinweis im Artikel auf «Orgien» in einer Wohnung und mehrere mnnliche Beschuldigte zeigt. Ulrichs schrieb mit Bezug auf diesen Artikel von einer «groen Untersuchung gegen Urninge» (XII: 87-88).

Diese nicht ganz so groe Untersuchung ist in der homosexuellen Geschichtsforschung bekannt. Es handelt sich um den Prozess gegen eine Gruppe von Mnnern um den Berliner Kaufmann Friedrich Wadzeck. Auer Ulrichs erwhnt auch Bismarck («Gedanken und Erinnerungen». 1898. S. 5-6) diese «unnatrlichen Laster» und es gibt eine Akte zu dem Fall im Geheimen Staatsarchiv Preuischer Kulturbesitz in Berlin. Manfred Herzer hat darber den Aufsatz «Wadzeck» verffentlicht («Capri». 2005, Nr. 37. S. 2-4. Als PDF S. 1634-1636) und dabei auch auf einige Fehler in Ulrichs‘ Text hingewiesen.

«Friederike» Blank ein unersttlicher passiver «Pderast» (1853)

Das, was wir von Ssskind «Friederike» Blank (ca. 1799 1853) wissen, wissen wir von dem Kreis-Physikus (Kreisarzt) Hieronymus Frnkel aus dessen Aufsatz «Homo mollis» (in: «Medicinische Zeitung des Vereins fr Heilkunde in Preuen», 1853, S. 102-103). Frnkel kannte Blank seit 1844 und hat dessen Leiche 1853 gerichtsrztlich begutachtet. Blank sei, so Frnkel, ein «passiver Pderast» (d. h. jemand, der Analverkehr praktizierte) und «unersttlich» gewesen. Sein Anus sei so erweitert gewesen, dass Frnkel «bequem mit zwei Fingern eingehen konnte». Zu Blanks Lebensgeschichte erzhlt Frnkel Folgendes: Ab dem 22. Lebensjahr habe Blank sich «ausschlielich dem mnnlichen Geschlechte» zugewandt. Eine Erlaubnis, «sich weiblich kleiden und nennen zu drfen», wurde ihm verwehrt. Als «Friederike Blank» gab er die Verlobung mit einem Handwerker an. Frnkel berichtet von mehreren Gefngnis- bzw. Zuchthausstrafen seit 1846. Blank hatte regelmig Mnner zum Sex verleitet, die ihn fr eine Frau hielten. Dafr legte er sich auf den Bauch und bedeckte mit der Hand seinen Penis. Frnkel ging juristisch gegen Blank vor, als er einen 17-jhrigen Schneiderlehrling wegen Tripper behandelte und dieser Sex mit Blank zugab. Obwohl der Aufsatz in einer medizinischen Fachzeitschrift erschien, versuchte Frnkel nicht einmal ansatzweise neutral zu wirken. Frnkel freute sich erkennbar ber Blanks Suizid, weil dieser nun keine jungen Mnner mehr schdigen knne, und lie den Artikel mit einem Zitat aus der Bibel enden (Wiederabdruck in «Capri», 1990, Heft 3, S. 27-29, PDF-Seiten S. 375-377).

Ulrichs wurde auf Blank durch Frnkels Aufsatz aufmerksam, den er ausfhrlich kommentierte (II: 16-17; s. a. Kennedy, S. 99-100). Blank schien alles zu besttigen, was Ulrichs von «femininen» Homosexuellen annahm. Zwischen dem, was in der Antike ber «weibliche» Mnner erzhlt wurde, und Blank sah er viele Parallelen (II: 69-72), wie das weibliche Kokettieren (IV: 25), den Habitus (IV: 39) oder das Verlbnis mit einem Mann (V: 22), bis zum Abrasieren des Bartes (VI: 90). Weil Blank sich das Leben nahm, sei er so Ulrichs ein Opfer «euerer Verfolgungen» (III: 5). ber Blank wolle er sich nur «naturwissenschaftlich» uern, aber «sein Betragen» nicht verteidigen (IV: 2), womit er wohl Blanks Promiskuitt meinte. Ulrichs war sogar im Besitz einer «Photographie» von Blank (VII: 11).

Johann Baptist von Schweitzer der Verlauf des Skandals (1864)

Am 4. August 1862 wurde Johann Baptist von Schweitzer (1833-1875), einer der fhrenden frhen Sozialdemokraten, im Mannheimer Stadtgarten unter dem Verdacht verhaftet, «einen Knaben von unter 14 Jahren zur Vornahme einer unsittlichen Handlung verleitet zu haben». Rund einen Monat spter am 5. September 1862 wurde Schweitzer zu zwei Wochen Gefngnis verurteilt. Weil sich der sozialistische Politiker Ferdinand Lassalle fr ihn aussprach, schadete ihm dieser Skandal politisch jedoch nicht und so konnte er von 1867 bis 1871 Reichstagsabgeordneter des Norddeutschen Bundes und Prsident des «Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins» (ADAV) werden. Vor rund einem Monat zum 150. Todestag Johann Baptist von Schweitzers habe ich hier auf queer.de einen Artikel zu diesem Skandal geschrieben und dabei auch darauf hingewiesen, wie sich fhrende fhrende sozialistische bzw. sozialdemokratische Protagonisten wie August Bebel, Ferdinand Lassalle, Karl Marx und Friedrich Engels zu Schweitzer positionierten.

Johann Baptist von Schweitzer die Reaktionen von Ulrichs (1864)

Ulrichs uerte sich zunchst ber Schweitzer, ohne dabei seinen Namen zu nennen. Er schrieb (leicht dechiffrierbar) davon, dass ein «Dr. v. » aus Frankfurt am Main zu 14 Tagen Gefngnis verurteilt worden sei (II: 58, s. a. 35). Spter nannte Ulrichs auch Schweitzers Namen, schrieb von einer «unbedeutenden Spielerei mit einem jungen Burschen» und seiner Verurteilung. Einen Presseartikel konnte ich zwar nicht in der von Ulrichs genannten Zeitung, aber wortgleich in einer anderen der «Constitutionellen Bozner Zeitung» (11. August 1869) ausfindig machen. Mit Bezug auf den deutschen Arbeiterkongress in Eisenach wurde in dem Artikel auch zu Schweitzers politischer Bedeutung Stellung bezogen. Dieser sei «seit seinem Unzuchtsprocesse auch in seinem Privatleben hinlnglich gekennzeichnet (), um Denkende und Unbefangene nicht mehr zu tuschen» (VIII: 14-15; IX: 113-114, s. a. 17-18). Damit war offensichtlich gemeint, dass eine homosexuelle Orientierung einen Menschen fr eine politische Ttigkeit delegitimiere.

Ulrichs bemhte sich aktiv um Schweitzers Freilassung und schickte 1864 seine erste Schrift «Vindex» an den zustndigen Richter zur Weiterleitung an Schweitzers Verteidiger. Fr Schweitzers «moralische(n) Ehrenrettung» verffentlichte Ulrichs in der «Badischen Landeszeitung» vom 13. Juli und 15. Juli 1864 ber einen Mittelsmann zwei Inserate. In diesen warnte er vor einer Vorverurteilung und wies auf seine Schrift «Vindex» hin. Wegen der «Vindex»-Werbung hatte er diese Anzeige nicht selber aufgeben knnen, weshalb er sich bei seinem Mittelsmann bedankte (III: XVII-XVIII). Diese Ausgabe der Zeitung ist nicht online verfgbar, sondern wurde ber die Fernleihe einer Bibliothek bestellt. Es verwundert ein wenig, dass es Ulrichs nicht gestrt hat, dass der Junge, mit dem Schweitzer zu tun hatte, unter 14 Jahre alt gewesen sein soll. In anderen Fllen hatte er sich deutlich gegen sexuellen Missbrauch ausgesprochen.

Die Ermordung des Malers Allard in Rom (Oktober 1864)

Ulrichs (IV: XII-XIII) schrieb: «1864 traf in Rom der franzsische Maler Allard () den 19jhrigen Margheriti und machte ihm Liebesantrge.» Dieser ermordete und beraubte ihn. In der anschlieenden Gerichtsverhandlung wollte der Mrder Margheriti seine Tat mit vorherigen «schndlichen Antrgen» Allards rechtfertigen. Das Gericht, so Ulrichs, «verwarf diese Entschuldigung, da er jene Antrge einfach habe ablehnen () knnen». Ulrichs teilte offenbar die Meinung des Gerichts und ging spter im Zusammenhang mit anderen Morden an Homosexuellen noch einmal auf diesen Fall ein (VII: 111-115, hier 112). In den mir vorliegenden Zeitungsberichten wurde der mgliche homosexuelle Kontext nicht erwhnt, einige Zeitungen wie «Der Ungar» (29. April 1864) wiesen nur darauf hin, dass Allard «von einem seiner Modelle» ermordet worden sei. Auch zur spteren Gerichtsverhandlung haben ich keine Zeitungsberichte ausfindig machen knnen, die einen konkreten homosexuellen Hintergrund nannten (s. a. die «Wiener Zeitung» vom 31. Oktober 1864 und die «Grazer Zeitung» vom 2. November 1864).

Joseph Hofer wird zu neun Jahren Kerker verurteilt (1864)

Joseph Hofer, ein Hilfspfarrer im sterreichischen Moos, wurde 1864 wegen homosexueller Handlungen verurteilt. Seine Verurteilung fhrte zu einer breiten Diskussion in der ffentlichkeit. Das lag an dem hohen Strafma von zwlf Jahren Kerker und daran, dass er zuvor zwlf Jahre lang Jugendliche und junge Erwachsene «verfhrt» und Sex auch im Beichtstuhl gehabt haben soll. 17 junge Mnner wurden verdchtigt, sieben von ihnen ebenfalls vor Gericht gestellt und anschlieend zu Strafen von zwei bis vier Monaten Gefngnis verurteilt (s. «Die Presse», 6. September 1864, Morgenausgabe und Abendausgabe). Vom zustndigen Oberlandesgericht wurde das Urteil am 30. Oktober 1864 besttigt («Die Presse», 2. November 1864 u. a.). Zu diesem Skandal habe ich zwlf Artikel gefunden.

Ulrichs bezieht sich auf Artikel aus der Wiener Zeitung «Die Presse». Dieser Fall scheint ihn besonders bewegt zu haben, was sich aus seinen Kommentaren ableiten lsst. Seine Kritik an dem harten Urteil der Richter lsst Ulrichs mit dem Satz enden: «Vater, vergib ihnen: denn sie wissen nicht, was sie thun!» (VII: 133). Zwischen September 1864 und November 1869 verschickte er mindestens vier Briefe u. a. an das sterreichische Justizministerium und den sterreichischen Reichsrat, in denen er sich (erfolglos) fr Hofer einsetzte (III: XIX-XXI; IV: XI; VII/2: IX-X; X: 72).

Ein Verfahren wegen «Unzucht gegen die Natur» gegen Franz X. Schumacher (1864)

Ulrichs schrieb in einer Kurzmitteilung, dass in Wien am 31. August 1864 ein Verfahren wegen «Unzucht gegen die Natur» mit einem Freispruch endete (III: XIX). Er wollte oder konnte keinen Namen nennen, was bei einem Freispruch unbedenklich gewesen wre. Aufgrund von sechs Meldungen u. a. in der «Wiener Zeitung» (2. und 3. September 1864) kann festgestellt werden, dass es sich bei dem Angeklagten um Franz X. Schumacher handelte, ber den die «Ostdeutsche Post» (4. September 1864) mitteilte, dass er der Redaktion der Zeitung «Vaterland» angehrt habe, aber nun entlassen worden sei.

Peter Keller will Sex nur auf geklauten Altarbchern (1868)

Zu einem recht merkwrdigen Kriminalfall von 1868 aus dem Dorf Bttelborn bei Darmstadt wurde Ulrichs «folgendes mitgetheilt»: Ein Bauer wollte beim Sex mit «jungen Burschen» unbedingt immer auf einem aufgeschlagenen Altarbuch (Bibel oder Messbuch) liegen, das er vorher zu «einmaligem Gebrauch» fr diesen Zweck aus einer Kirche gestohlen hatte. Er wurde wegen mehrfachen Diebstahls verhaftet, vor Gericht gestellt und aufgrund eines medizinischen Gutachtens freigesprochen (IX: 79-81).

Mehrere Zeitungen gingen in ihren Berichten zwar nicht auf den homosexuellen Hintergrund ein, ergnzten aber den Namen des Beschuldigten: Peter Keller. Die «Neue Freie Presse» (2. Mai 1868) schrieb, die Hintergrnde seien unbekannt. Ebenso wie fr das «Echo der Gegenwart» (26. Mai 1868), das 82 Zeugen erwhnte und wie offenbar auch die ffentlichkeit mit Unverstndnis auf den Freispruch reagierte. Der «St. Pltner Bote» (30. Juli 1868) vermutete Aberglauben und Hass auf «alle religisen Einrichtungen».

Der schwule Joseph Kraft ermordet seine Ehefrau (1868)

In einem niedersterreichischen Dorf heirateten 1867 der Bauer Joseph Kraft und Katharina Bernert. Nach Konflikten ttete Kraft zwischen dem 5. und 8. Februar 1868 seine Ehefrau und wurde dafr vor Gericht gestellt. Die Wiener Zeitung «Die Presse» (19. Juni 1868, S. 14-15) schrieb, dass Joseph Kraft einem «unnatrlichen Laster ergeben» sei. Die «Neue Freie Presse» (20. Juni 1868) sah zwischen der «unnatrlichen Leidenschaft» Krafts und dem Mord einen Zusammenhang, denn seine Frau habe deshalb «eine unberwindliche Abneigung gegen ihn» gehabt und er wiederum sie «als eine Last» betrachtet. Am Ende dieses Mordprozesses wurde Kraft zum Tod verurteilt.

Auf diese beiden Artikel bezog sich Ulrichs, als er ber homosexuelle Mnner schrieb, die ihr Glck in der Ehe mit einer Frau suchten. Er kritisierte an der Gerichtsverhandlung nicht die Todesstrafe, sondern dass die «Neigung zu jungen Mnnern zu den Erschwerungsgrnden» gerechnet (also als strafverschrfend angesehen) und dass ein Zusammenhang zwischen Homosexualitt und «Grausamkeit» hergestellt wurde, was Ulrichs an die frheren Hexenprozesse erinnerte (VII/2: XI-XV; VIII: 56-57). In dieser Zeit wollten homosexuelle Mnner Frauen nicht nur deshalb heiraten, um homosexuellen Gerchten entgegenzuwirken, sondern auch, um durch eine solche Ehe heterosexuell zu werden. Mit deutlichen Worten kritisierte Ulrichs solche «naturwidrigen Marterehen», die ein «Hohn sind auf die Natur» und die «mit Davonlaufen oder mit Scheidung zu enden pflegen, in einzelnen Fllen mit Mord oder mit Selbstmord» (X: 38).

Bruder Marinus wird von zwei Waisenkindern belastet (1869)

Der aus Augsburg stammende Laienbruder Marinus arbeitete als Lehrer in einem Wiener Waisenhaus. Nach Angaben der sterreichischen Zeitung «Die Presse» (11. Mrz 1869) hatten ein neun- und ein zwlfjhriger Junge schlechte Zeugnisse nur «erhalten, weil sie Bruder Marinus nicht gefllig sein wollten». Das «Fremdenblatt» (16. Mrz 1869) geht auf ein «unsittliches Attentat» von Bruder Marinus ein und nennt die beiden Waisenkinder Nikolaus Berghoff und Josef Gebhart beim Namen. Offenbar waren die Klagen der beiden Schler ausreichend glaubhaft, denn Bruder Marinus wurde entlassen und nach Augsburg zurckgeschickt. Ulrichs (VIII: S. 20-21, 23-24; IX: 25) bezieht sich mit dem Hinweis auf schlechte Zeugnisse auf «Die Presse» und zieht dabei Vergleiche zu dem hnlich gelagerten Fall Morell fast zweihundert Jahre frher. Dann zitiert er die «Vorstadtzeitung» vom 26. Mrz 1869, wonach die gerichtliche Untersuchung ergeben haben soll, dass die Handlungen «theils vollstndig entstellt, theils geradezu unwahr sind». Fr Ulrichs war damit der Fall offenbar erledigt. Die Angaben von Ulrichs, dass sich die Angaben als falsch erwiesen und die aus den Zeitungen, dass Marinus entlassen wurde, lassen sich nur bedingt miteinander in Einklang bringen.

Zastrow der breit diskutierte Kriminalfall (1869)

Wegen eines in ganz Deutschland diskutierten Kriminalfalls wurde Ulrichs 1869 in seinen emanzipatorischen Bemhungen zurckgeworfen: Der Maler Carl von Zastrow (1821-1877) wurde in Berlin vor Gericht gestellt und am 29. Oktober 1869 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er nach berzeugung des Gerichts den fnfjhrigen Emil Hanke mit einem Stock anal vergewaltigt, stranguliert und dabei fast gettet hatte. Von der Anklage der Ermordung des 15-jhrigen Bckerlehrlings Corny wurde er im selben Verfahren freigesprochen. Zu den online verfgbaren Quellen zu diesem Kriminalfall gehrt Hugo Friedlnders Buchkapitel «Der Proze gegen den Leutnant a. D. von Zastrow» aus seinem Werk «Kulturhistorische Kriminal-Prozesse der letzten vierzig Jahre» (1. Band, 1908, S. 11-16). Weil zur gleichen Zeit ber das Strafrecht diskutiert wurde, bekam der Fall Zastrow eine Bedeutung, die weit ber seinen strafrechtlichen Aspekt hinausging.

Ulrichs war die erste Person des ffentlichen Lebens, die offen homosexuell auftrat. Unter dem Titel «Der zweite Schwule in den Geschichtsbchern» habe ich 2019 gemeinsam mit Jens Dobler einen queer.de-Artikel ber Carl von Zastrow geschrieben und auch schon hier auf die unterschiedlichen Verbindungen zu Ulrichs hingewiesen. Zastrow besa wohl Ulrichs‘ Schrift «Memnon» und bezog sich im Prozess auf dessen Publikationen.

Zastrow wie vor Gericht ber Ulrichs gesprochen wurde (1869)

Zunchst mchte ich aufzeigen, wie in der Gerichtsverhandlung ber Ulrichs gesprochen wurde. Hierfr habe ich auf die ausfhrlichen Prozessberichte in derselben, mittlerweile auch online verfgbaren Zeitung zurckgegriffen, auf die sich schon Hubert Kennedy (Vorwort zu VIII-IX, S. 7-10) und Manfred Herzer («Der Prozess gegen den Berliner Urning Carl von Zastrow», in: «Capri», 1988, Heft 2, S. 3-14, PDF-Seiten 135-146) bezogen haben. Dabei handelt es sich jedoch nicht wie dort angegeben um die «Vossische Zeitung», sondern um die «Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen». Die Zeitungsartikel vom 6. Juli, 26., 27., 28., 29. und 30. Oktober 1869 beinhalten jeweils Berichte vom vorherigen Verhandlungstag.

Die Angabe Herzers in «Capri», die von ihm abgedruckte Portrtzeichnung Zastrows stamme aus der «Berliner Gerichtszeitung», kann nicht besttigt werden. In der «Berliner Gerichtszeitung» (6. Juli 1869) wurde eine andere, aber recht hnliche Zeichnung abgedruckt. Weil die in «Capri» und danach auch in «Mann fr Mann» (2010, S. 1307) abgedruckte Zeichnung das bisher einzige bekannte Portrt Zastrows zu sein scheint, werden hier beide Zeichnungen, auch zum Vergleich, noch einmal verffentlicht.

In der Gerichtsverhandlung wurde Ulrichs zweimal kurz erwhnt. In der Verhandlung am 25. Oktober 1869 (s. 26. Oktober 1869, S. 4) wurde festgehalten: «Nach seinen mndlichen Auslassungen will der Angeklagte zu denjenigen Mnnern gehren, welche in einer Schrift des Referendar Ullrich (!) als Urninge bezeichnet werden. Er zhlt diese Mnnerklassen zu der Kategorie derjenigen, welche von der Natur in irgend einer Weise vernachlssigt worden seien.» In der Verhandlung am 28. Oktober (s. 29. Oktober 1869, S. 6) gab ein Zeuge an, dass sich der Angeklagte mit «sehr groem Enthusiasmus () ber die Broschre des Amtsassessor Ullrich (!) geuert und dieselbe fr ein Meisterwerk erklrt» habe.

Andere Journalisten haben die Gerichtsverhandlung anders zusammengefasst. In der «Barmer Zeitung» (1. November 1869) wird eine Aussage des Gerichtsmediziners Karl Friedrich Skrzecka, der als Sachverstndiger gehrt wurde, wiedergegeben: «Die vorgetragenen Ideen von der Urningsliebe seien berhaupt nicht die des Angeklagten, sondern er habe sie den Schriften des Assessors Ulrich (!) entlehnt.» Ulrichs‘ Theorie des «geborenen Urnings» widersprach Skrzecka, weil Ulrichs selbst angebe, dass ein Heterosexueller auch homosexuell und umgekehrt werden knne. Auch Ulrichs geht auf diese uerung Skrzeckas ein (X: 22-23).

Was Ulrichs ber Zastrow schrieb (1869)

Den Gegnern der Homosexualitt, so Ulrichs, «war der Fall Zastrow ein gefundener Bissen» (IX: 7). Durch den Fall geriet auch Ulrichs mit seinen Verffentlichungen in die Kritik, weil er mit dem Gewalttter Zastrow oft in einem Atemzug genannt wurde, und ihm war erkennbar daran gelegen, sich noch whrend des Prozesses zu positionieren. Seine beiden Broschren «Incubus» (VIII) und «Argonauticus» (IX), die im Mai und Oktober 1869 erschienen, handeln fast ausschlielich vom Zastrow-Prozess.

Weil sich «Argonauticus» (160 Seiten) als erweiterte Fassung von «Incubus» (94 Seiten) versteht, zitiere ich nachfolgend aus der Schrift «Argonauticus» (IX), die den Untertitel trgt: «Zastrow und die Urninge des pietistischen, ultramontanen und freidenkenden Lagers». Hinsichtlich der Vorwrfe gegen Zastrow stellte Ulrichs zunchst unmissverstndlich fest: «Diese Schrift ist keine Vertheidigungsschrift» (S. 7). Danach teilte er mit, dass die im Prozess verhandelten Taten zwar von ihm «verabscheut» wrden (S. 13-14), dass aber Zastrows «offene(s) Bekennen seiner Mnnerliebe» seine «vollste Sympathie» wecke (S. 11-12) bzw. dass er fr Zastrows «grosse Trost- und Haltbedrftigkeit» «tiefes Mitleid» empfinde (S. 123). Zudem kritisierte er das «Geschrei des Pbels» und die Berliner Presse, weil sie die «blinde Wut mehr anstachelt als zgelt» (S. 81). Auch die vom Richter und der Presse vorgenommene Gleichsetzung von Pdo- und Homosexualitt stellte er in Abrede. Fr Ulrichs schlossen sich die Liebe zu Mnnern und die zu «unreifen Knaben» gegenseitig aus (S. 127) und er war dazu «geneigt», die «Geschlechtsneigung zu unreifen Knaben fr krankhaft zu halten» ebenso wie die zu Mdchen (S. 42).

Zastrow wie sich Ulrichs gegen Vorwrfe wehrte (1869)

Die Presseartikel, die sich auch gegen Ulrichs richteten, waren unterschiedlich deutlich: Das «Echo der Gegenwart» (27. Oktober 1869) schrieb, Zastrows Neigungen lieen ihn als «Urning» erscheinen, also «eine durch die Brochure des Assessor Ullrichs (!) nher prcisirte Species von Mnnern». Etwas vorwurfsvoller liest sich dies einige Jahre spter in der «Allgemeinen Wiener medizinischen Zeitung» (23. April 1872): Ulrichs habe ein Buch geschrieben, «in dem er die Ehrenrettung Zastrow’s versucht und die Urningsliebe vertheidigt».

In der «Brsenzeitung» aus Berlin war in der Ausgabe vom 20. Februar 1869 zu lesen: «Zastrow hat sich sehr den Inhalt der vielgenannten Schriften des frheren hannoverischen Amtsassessors Ulrich (!) () zu eigen gemacht. Diese Schriften, namentlich ‚Memnon‘, fanden sich auch in seiner Bibliothek vor.» Rund zwei Wochen spter erreichte Ulrichs, dass in der Ausgabe vom 5. Mrz 1869 eine Erklrung bzw. Gegendarstellung von ihm abgedruckt wurde, in der er betonte, mit «Zastrow nicht in Beziehung gestanden» zu haben und dass seine «Schriften ber Urningsliebe» auch nicht «von der Tendenz getragen (sind), derartige Verbrechen () zu beschnigen. () Jene Verbrechen werden von mir, wie von jedem, der im Gebrauch seines Verstandes ist, verabscheut.» Danach stellte die Redaktion klar, sie habe gar nicht behauptet, dass Ulrichs‘ Schriften solche «Verbrechen () beschnigen», und bescheinigte Ulrichs sogar, dass sich ‚Memnon‘ «streng in sittlichen Grenzen hlt». Beide Artikel der «Brsenzeitung» liegen mir vor. Sie sind zwar nicht online verfgbar, aber ich habe sie ber die Fernleihe aus einer Bibliothek erhalten. Ulrichs erwhnt die beiden Artikel aus der «Brsenzeitung» in seinen Schriften (VIII: 27; IX: 12-14, 116) und gibt deren Inhalte sinngem richtig wieder.

Gewaltsame Kastration (1869)

Vor dem Hintergrund der breiten Diskussion um Carl von Zastrow behandelte Ulrichs auch Gewalttaten, Morde und Sadismus unter bzw. von Homosexuellen (VIII: 45-93, insbesondere 58-61). Hierzu zitierte er recht ausfhrlich aus dem Artikel «Brutalitt» der sterreichischen Zeitung «Die Presse» (24. Februar 1869), wonach ein namentlich nicht genannter Mann von drei Ttern in ein Gebsch gezerrt und gewaltsam ausgezogen worden sei. Sie «entmannten den Unglcklichen theilweise» und beraubten ihn. Die Zeitung vermutete, dass Aberglauben im Spiel gewesen sei.

Ulrichs gab zu, dass er weder die sexuelle Orientierung der Tter noch die Hintergrnde dieser Tat kannte, womit er sich argumentativ auf dnnem Eis bewegte. Bei dem, was er anschlieend schrieb, bezog er sich auf das Werk «Christliche Mystik» des katholischen Philosophen und Publizisten Joseph von Grres, genauer: auf das Kapitel «Die dmonische Blutgier» und den Hinweis, dass Zeugungslust und Mordlust einen Blutrausch auslsen knnten (Joseph von Grres: «Christliche Mystik», 1836-1842, hier IV. Band von 1842, S. 460). Ulrichs erluterte, unter welchen Voraussetzungen auch Homosexuelle zu solchen Gewalttaten fhig seien, und betonte, dass seine Einstellung hierzu mit der von Grres bereinstimme. Whrend Grres jedoch auf dem Weg der «mystischen Dmonologie» zu seinen Anschauungen komme, beschreite er selbst den Weg der «naturwissenschaftlichen Psychologie».

Der Regierungsrat Seestern-Pauli im Berliner Tiergarten (1869)

Ulrichs berichtete von einem Erpressungsversuch am geheimen Regierungsrat von Seestern-Pauli im Berliner Tiergarten und ber die Erpresser Karl August Merkel, Gustav Sachse und Hermann Faustmann, die ihn in eine Falle gelockt hatten (X: 60). Die Tter wurden zu zwei, zweieinhalb und vier Jahren Gefngnis verurteilt. Der Artikel darber in der sterreichischen Zeitung «Die Presse» (27. September 1869) ergnzt Ulrichs‘ Angaben mit ausfhrlichen Informationen zum Prozessverlauf. Der Grund fr diesen recht langen und engagierten Artikel in dieser Zeitung lag vielleicht darin, dass es sich bei dem Opfer um eine Person aus der Oberschicht handelte, die auch von Ulrichs als heterosexuell angesehen wurde.

Der Geistliche Karl Forstner im Wiener Stadtpark (1869)

Der 25-jhrige sterreichische protestantische Geistliche Karl Forstner (1843-1915) wurde im Februar 1868 von dem Kanonier Anton Vogel wegen sexueller Annherungsversuche im Stadtpark von Wien angezeigt. Anton Vogel war der Vetter eines Kellners, der Forstner im Vorjahr zu erpressen versucht hatte. Trotz dieser Zusammenhnge wurde Forstner in Wien am 13. August 1869 zu einem Jahr Kerker verurteilt. In Wikipedia gibt es dazu nur einen recht versteckten Satz ber den Prozess gegen ihn «wegen des Vorwurfs des unsittlichen Verhaltens».

Zum Skandal um Karl Forstner habe ich mehr als 20 Zeitungsartikel gefunden, die in dieser Zeit offensichtlich viel zur Enttabuisierung von Homosexualitt beigetragen haben. Ulrichs ging ausfhrlich auf diesen Fall ein (IX: S. 19-20, 138) und verwies u. a. auf die in Wien erscheinende Zeitung «Die Presse» vom 24. Februar und 24. Juni 1869. Im Rahmen der Berichterstattung ist eine Zeichnung besonders hervorzuheben, die in der Satire-Zeitschrift «Kikeriki» (11. Mrz 1869) auf dem Cover abgedruckt wurde. Karl Forstner (erkennbar an der protestantischen Halsbinde) flchtet vor Anton Vogel (der Kanonier rechts) und soll nun erklren, warum er schon zum zweiten Mal in eine solche Situation geraten ist. (Die berschrift «Der neue egyptische Josef im Stadtpark» spielt ironisch auf die biblische Geschichte an, in der Potiphars Frau Josef verfhren will, dieser ihr knapp entkommt und dann von ihr flschlich der sexuellen Annherung beschuldigt wird. Forstner wird hier, im Gegensatz zum keuschen Josef, als Heuchler dargestellt.) Ulrichs kritisierte diese Karikatur, weil sie sich ber das Opfer lustig mache, statt die Tter zu bekmpfen (VIII: 17; IX: 20). Dass sich Ulrichs mit Forstner offenbar identifizieren konnte, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Forstner (vorlufig) suspendiert wurde. Ulrichs betonte, dass auch er selbst Opfer eines Berufsverbots war (ein Gericht hatte ihm 1859 eine Ttigkeit als Anwalt verboten). Ulrichs reichte nicht nur eine Frbitte an den Oberstaatsanwalt ein (XII: 72), sondern kritisierte auch, dass Forstner in Mnchen verhaftet und an sterreich ausgeliefert worden war, obwohl Homosexualitt in Bayern zu dieser Zeit (1813-1871) nicht strafbar war (X: 51-54). Eine gute Zusammenfassung des Skandals bringt Kennedy (S. 257-266).

Der Berliner Hauptmann Frosch nimmt sich das Leben (1869)

Im November 1869 wurde ein Berliner Offizier denunziert und stand nun unter dem Verdacht der «widernatrlichen Unzucht mit seinem Burschen». Vermutlich um dem Militrgericht zu entgehen, ttete er sich selbst («Staatsbrgerzeitung», 12. November 1869, S. 5, oben). Ulrichs berichtete ber den Suizid (X: 10, 37, 54-58, hier 57, 74) und bezog sich dabei auch auf diesen Artikel (XI: 20). Mit dem Hinweis auf andere Artikel konnte er den Namen des Offiziers, Frosch, ergnzen und verteidigte ihn anschlieend in sehr emotionalen Worten als unschuldiges Opfer des Denunziantentums: «Wen trifft die Blutschuld? Sprechet! Ich fordre Rechenschaft. Es liegt ein ermordeter hier! Gegen wen schreit sein Blut zum Himmel? Gebt Antwort! Wer sind die Mrder?» Ulrichs scheint dieser Fall nahe gegangen zu sein. In einer Werbeanzeige fr die von ihm geplante Homosexuellenzeitschrift «Uranus» abgedruckt u. a. in der «Klnischen Zeitung» (18., 20. und 22. Dezember 1869) kndigte er als Hauptthema des ersten Heftes den Suizid des Hauptmanns Frosch an. Aus diesem geplanten «Uranus»-Heft wurde spter seine X. Schrift «Prometheus». In «Mann fr Mann» (S. 370) ist Froschs Todesjahr durch einen Zahlendreher (1896 statt 1869) falsch wiedergegeben. Etwas missverstndlich ist der indirekte Hinweis auf eine Erpressung (die es nicht gab) und der Hinweis auf eine «Grabesrede», die von Ulrichs nur in einem bertragenen Sinne gemeint war.

Kehrmann wird erpresst und trotzdem Hauptbeschuldigter (1875)

Der Fall des erpressten Bankangestellten Kehrmann wird von Ulrichs als besonders lehrreich bezeichnet. Er beweise, wozu Erpressungen fhren knnten und wie ungestrt Erpresser vorgingen, weil sich aufgrund der Strafbarkeit der Homosexualitt die Erpressungsopfer nicht an die Polizei wendeten. Sechs Jahre lang seien 24 Erpresser «wie ein Schwarm blutsaugerischer Insecten» ber Kehrmann hergefallen (XII: 57, 60-61). Dadurch wurde Kehrmann zur Unterschlagung von 240.000 Mark gentigt, aber die Erpressungen und damit auch die Unterschlagungen wurden fortgesetzt. Als die Sache aufflog, wurden die Unterschlagungen und die Erpressungen zusammen verhandelt. ber den Prozess gegen Kehrmann und die Erpresser berichteten das «Echo der Gegenwart» (1. Oktober 1875) und die «Illustrirte Zeitung» (9. Oktober 1875) in gleichlautenden Kurzmeldungen. Die «Barmer Zeitung und Handelsblatt» (1. Oktober 1875) berichtete etwas ausfhrlicher ber Kehrmann, der den anderen Angeklagten 25.000 Mark gezahlt habe, damit diese ihn nicht «wegen seiner widernatrlichen Excesse vor den Strafrichter bringen sollten». Kehrmann wurde zu fnf Jahren verurteilt, whrend seine Erpresser mit «bis zu 3 Jahren» davonkamen. Nach der Urteilsverkndung machten die Erpresser, laut Bericht der «Barmer Zeitung», «frivole Spsse» und einer «gab sogar ein Lied zum Besten».

Resmee

Ulrichs ist auch bei der Behandlung von Skandalen eine grundstzlich zuverlssige Quelle. Fast immer berichtete er nchtern und sachlich. Bei einzelnen Skandalen schrieb er manchmal was gut nachvollziehbar ist auch mal wtend, verzweifelt und anklagend. Aber auch hier wirkt er zwar emotional und engagiert, aber nie verletzend oder beleidigend. Mit den Angaben der Namen von Homosexuellen ging er vorsichtig um und er betrieb nicht das, was wir heute Outing nennen.

Die Auflistung der Skandale wirkt zunchst so, als htte es in den Jahren 1864 bis 1869 besonders viele Homosexuellenskandale gegeben. Diese scheinbare Anhufung erklrt sich jedoch daraus, dass Ulrichs von seiner letzten Schrift einmal abgesehen seine Schriftenreihe von 1864 bis 1870 publizierte und deshalb vor allem ber Skandale aus diesen Jahren berichtete.

Ulrichs‘ Einstellung zur Pdo- bzw. Ephebophilie

Viele der Skandale betreffen Mnner, deren sexuelles Interesse sich auf Kinder und Jugendliche zu beziehen scheint (Morell, Pellanda, Hofer, Marinus, Zastrow), darunter mehrere kirchliche Wrdentrger. Vor dem Hintergrund seiner auch von der antiken Pderastie beeinflussten Einstellung mchte ich Ulrichs‘ Positionierung zur Pdo- und Ephebophilie verdeutlichen. Ulrichs sprach sich deutlich gegen Sex mit Kindern vor der Pubertt aus: «Wer unerwachsene verfhrt, ist gefhrlich» (VI: 26). Das Verhltnis zwischen einem 14- und einem 30-Jhrigen (VII: 53) scheint er gebilligt zu haben. Spter schrieb er: «Geschlechtshandlungen mit schutzlosen und schutzbedrftigen unmannbaren Knaben werde ich brigens nie, nie! mildernd darstellen, und wren es () auch nur unbedeutende Berhrungsspielereien. Eines Knaben Keuschheit sei jedem erwachsenen ein Heiligthum» (VIII: 89-90). Mit der «unbedeutenden Spielerei» von Schweitzer mit einem Knaben hatte er jedoch keine Probleme, was inkonsequent wirkt.

Parallelen zu spteren Skandalen

Fast ein halbes Jahrhundert spter verglich Magnus Hirschfeld in seinem Hauptwerk «Die Homosexualitt des Mannes und des Weibes» (1914, S. 26, 106) den fr Ulrichs so bedeutsamen Skandal um Carl von Zastrow (1869) mit denen um Oscar Wilde (1895) und Philipp zu Eulenburg (1907). Fr die Presse waren diese drei Skandale ein gefundenes Fressen und alle diese Prozesse hatten eine deutlich negative Wirkung auf die ffentliche Meinung ber Homosexualitt. Mit den Bezeichnungen «ein Zastrow», «ein Wilde» und «ein Eulenburg» wurden Homosexuelle zu den jeweiligen Zeiten beleidigend benannt.

Ich mchte auf Parallelen zu weiteren Skandalen hinweisen: Ulrichs musste erleben, wie der Fall des Sexualstraftters Zastrow die Strafrechtsdiskussion in den Jahren 1869 bis 1871 mit beeinflusste sogar noch mehr als die reformwilligen Mediziner der Zeit. Der spteren Homosexuellenbewegung erging es hnlich: Sie musste 1924 erleben, dass auch der Fall des Serienmrders Fritz Haarmann einen groen Einfluss auf die Strafrechtsdiskussion hatte mehr als hunderte von Medizinern und Juristen, die sich fr eine Straffreiheit einsetzten. Erinnern mchte ich auch an die Strafrechtsreform von 1969 mit einer bedeutenden Liberalisierung des 175. Die Strafrechtsdiskussion in den Jahren zuvor war ebenfalls berschattet vom Prozess gegen den schwulen Serienmrder Jrgen Bartsch 1967.

Bei den Vergleichen mit anderen Skandalen fllt allerdings auch ein wichtiger Unterschied auf. Whrend Ulrichs‘ Zeit musste in den Zeitungen und vor Gericht manchmal noch erklrt werden, dass es gleichgeschlechtliches sexuelles Begehren berhaupt gibt. Begriffe wie «Homosexualitt» gab es zunchst noch nicht. Zur Zeit der spteren Skandale in der wilhelminischen Zeit wussten vermutlich die meisten Menschen, dass es Homosexuelle gab, wenn sie auch davon ausgingen, noch keinem persnlich begegnet zu sein.