Warum «Paris is Burning» noch immer aktuell ist
«Paris is Burning» beginnt und endet auf der Strae. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil wir heute wahrscheinlich vor allem das Geschehen im Innern der Ball Rooms in Erinnerung haben, wenn wir an Jennie Livingstons Kult-Klassiker von 1991 denken: die stilisierten Dance Moves und exaltierten Posen, die schrillen Kostme und turmhohen Percken, die Aufregung der Teilnehmenden und das quirlige Durcheinander im Publikum. Vielleicht sehen wir auch Pepper LaBeija Mutter (und Vater!) des House of LaBeija vor uns, wie sie in ihrem ausladenden goldglnzenden Outfit den Saal betritt. Und damit sowohl einen Fantasieraum, in dem sie einen Abend lang ein glamourses, erfolgreiches Supermodel sein kann, als auch den sehr realen Raum einer alternativen Art der Verwandtschaft, in dem queere Menschen of Color einander untersttzen und wertschtzen.
Bezeichnend ist aber eben auch das ber-die-Schwelle-Treten, mit dem die Doku einsetzt. Die Durchlssigkeit der Rume, die Fluiditt zwischen Innen und Auen, zwischen verschiedenen Identitten und Zeiten. In den Anfangsszenen, und immer wieder zwischengeschnitten, sehen wir eine untergegangene Welt voller Freirume fr Queers und PoC, aber auch voller Unterdrckung und potentieller Gefahr. Wir sehen, wie die Hip-Hop-Street-Culture in die Ballrooms einfliet, wir sehen queere Kids und Sexarbeiter*innen am Christopher-Street-Pier herumhngen, erste Voguing Moves ausprobieren, einander anfeuern und im geschtzten Kreis Gleichgesinnter Zrtlichkeiten austauschen.
Dass wir uns in der zweiten Hlfte der !)80er Jahre, mitten in der Amtszeit von Ronald Reagan und zu Hochzeiten der Aids-Krise befinden, bleibt eher Hintergrundfolie. Armut, Obdachlosigkeit, Krankheit und Gewalt sickern als Teile der Lebensrealitt vieler Protagonist*innen zwar immer wieder ins Filmmaterial, werden jedoch selten explizit verhandelt. Stattdessen konzentriert sich der Film bewusst auf die Momente der Freude und des Glamours, kondensiert im Rausch der Ballnacht und der fiebrigen Erwartung des Events, auf den Zusammenhalt, den Einfallsreichtum und die Widerstandskraft queeren Lebens am Rand der Gesellschaft.
Erstes Dokument der queeren Schwarzen und Latinx-Ballroom-Szene
Mitte der 1980er Jahre ist Jennie Livingston eine junge angehende Filmemacherin, die mit einem Yale-Abschluss in der Tasche frisch nach New York gezogen ist, dort die Voguing-Kultur entdeckt und beschliet, darber ihren ersten Langfilm zu drehen. Nach sieben Jahren Dreharbeiten und der Premiere der finalen Fassung auf dem Sundance Film Festival 1991 wird «Paris is Burning» zum ersten weithin bekannten Dokument der queeren Schwarzen und Latinx-Ballroom-Szene in Harlem, ein Erfolg, mit dem wahrscheinlich weder die Regisseurin noch die Mitwirkenden gerechnet htten. So erscheinen viele kleine Entscheidungen des Filmteams im Nachhinein ungleich gewichtiger, da wohl niemand ahnen konnte, wie sehr dieses Zeugnis ber Jahrzehnte hinweg das populre Verstndnis der Ballroom-Kultur prgen wrde.
Im Laufe der 1960er Jahre hatte sich die Ballroom-Szene in New York City aus einer Bewegung zumeist afroamerikanischer und lateinamerikanischer Akteur*innen der queeren und trans Subkultur entwickelt, als Gegenentwurf zur berwiegend wei und cis-mnnlich dominierten Gay Bar Culture und dem strukturellen Rassismus herkmmlicher Drag Balls. In den neu erschaffenen Rumen wurde Intersektionalitt verstanden und Inklusion gelebt, lange bevor diese Begriffe gebruchlich waren. So zeichnet sich Ballroom durch eine Vielzahl innovativer Kategorien aus (Executive Realness, Luscious Body, Schoolgirl/-boy, Face, Butch Queen etc.), um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass nicht jeder*r wie ein Las-Vegas-Showgirl aussehen kann oder will. Zugleich dienen die «Huser», in denen sich viele Mitglieder der Ballroom-Szene organisieren, als alternative Familien, in denen insbesondere queere und trans Jugendliche, die von ihren Herkunftsfamilien verstoen wurden, Untersttzung, Rckhalt und Anleitung erfahren.
Die Doku spielte fast vier Millionen Dollar ein
All dies transportiert «Paris is Burning», allerdings nicht im Sinn einer kleinen Geschichtsstunde fr Auenstehende. Vielmehr erschliet es sich Stck fr Stck, in einer immersiven Collage aus Szenen der Blle, der Piers und der Strae sowie Ausschnitten aus Interviews, die Livingston mit einigen der zentralen Protagonist*innen fhrte: Neben Pepper LaBeija kommen vor allem Dorian Corey, Octavia St. Laurent, Willi Ninja, Venus Xtravaganza, und Angie Xtravaganza zu Wort. Anstatt ein lineares Narrativ zu erschaffen, dient die komplexe Choreographie aus Bildern, Kommentaren und Sound dazu, Affekte zu erzeugen und queere Mglichkeitsrume zu erffnen, die auerhalb von Raum und Zeit liegen. Einzig in Zwischentiteln eingeblendete Begriffe wie «Legendary», «Shade» oder «Reading» strukturieren den Film offenkundig fr ein mit dem Phnomen «Ballroom» unvertrautes Publikum.
«Paris is Burning» ist also beileibe kein Produkt, das Queerness fr ein Mainstream-Publikum nachvollziehbar machen will und paradoxerweise doch genau das geschafft hat. U.a. gewann er den Groen Preis der Jury als bester Dokumentarfilm auf dem Sundance Film Festival und den Teddy Award fr den besten Dokumentarfilm auf der Berlinale 1991. Zudem spielte er die fr einen Independent-Dokumentarfilm unglaubliche Summe von fast vier Millionen Dollar ein, von denen die Mitwirkenden jedoch nur einen Bruchteil sahen, was im Nachgang zu einem Rechtsstreit fhrte und bei einigen der Protagonist*innen das bittere Gefhl hinterlie, ausgebeutet worden zu sein.
Ein Spektakel fr weie Zuschauer*innen?
Gerade der unerwartete und anhaltende Erfolg des Films sorgt dafr, dass Fragen nach Aneignung und Reprsentation immer wieder aufgeworfen werden. Bereits kurz nach der Verffentlichung kritisierte bell hooks in ihrem Essay «Is Paris burning?» den «ethnographischen Blick» und die «imperiale, alles berschauende Position», die Livingston ihrer Meinung nach einnimmt, um ein Spektakel fr weie Zuschauer*innen zu kreieren.
Tatschlich ist Livingston, die sich selbst als «weie, jdische, akademisch gebildete Lesbe» bezeichnet, zu Beginn der Dreharbeiten kein Teil der Ballroom-Szene, sondern nhert sich ihrem Thema als «eine Auenstehende, die hineinblickt» (hooks). Im Film selbst bleibt ihre Position unklar, da zwar an einigen Stellen ihre Stimme zu hren ist, sie jedoch unsichtbar bleibt.
Der Eindruck einer allwissenden, vermeintlich objektiven Perspektive stellt sich beim Schauen des Films dennoch nicht ein. Im Gegenteil: Die Kamera ist oft so nah an den Figuren dran, dass nur Teile ihrer Krper und Kostme erkennbar sind. Schrge Bildausschnitte und exzentrische Frames fangen das schwindlige Chaos der Blle ein, in das die Zuschauer*innen allein durch die Kraft der Bilder hineingezogen werden, ohne den Anspruch zu erheben, alles erklren oder begreifen zu wollen, was vor sich geht. Die ganz unterschiedlichen, einander teils widersprechenden Stimmen und Bilder lsst Livingston unkommentiert nebeneinander stehen.
Kritik am «War on the floor»
«Ich mchte ein verwhntes reiches weies Mdchen sein», sagt etwa Venus Xtravaganza, eine junge trans Frau mit puerto-ricanischen Wurzeln: «Ich will ein Auto. Ich will irgendwo hin, wo mich keiner kennt, weit weg von New York, mit dem Mann leben, den ich liebe.» Sehnschte, die sich allzu leicht in eine binre Geschlechterlogik und die unkritische Nachahmung einer weien Konsumgesellschaft einordnen lassen. An einer anderen Stelle jedoch, auf ihre Ttigkeit als Escort angesprochen, liefert Venus nonchalant ein uerst pointiertes Statement ab, das sich weitaus subversiver lesen lsst: Eine Mittelklasse-Hausfrau in der Vorstadt, die von ihrem Ehemann eine neue Waschmaschine mchte, mache im Prinzip die gleiche Art von Sex Work wie Venus, um von ihrem Kunden ein neues Outfit fr den nchsten Ball geschenkt zu bekommen.
Whrend einige der interviewten trans Frauen davon trumen, durch eine geschlechtsangleichende OP «eine komplette Frau» zu werden, steht Pepper LaBeija, die weibliche Pronomen bevorzugt, sich aber nicht als Frau identifiziert (und sich heute vielleicht als nichtbinr definieren wrde?) geschlechtsangleichenden OPs kritisch gegenber. Auch potentiell toxische Dynamiken innerhalb der Houses und auf den Wettbewerben werden angesprochen, etwa wenn eine der Interviewten sich ber zu strenge Auslegungen der Kategorie-Regeln und bertriebenes Konkurrenzgehabe («War on the floor») mokiert, oder eine Ballszene in einem lautstarken Wortgefecht ber die Frage endet, auf welcher Seite sich die Knopfleiste eines Pelzmantels befindet.
Das Wetteifern um «Realness»
Die hufig geuerte Kritik, «Realness» wrde einzig und allein bedeuten, so sehr wie mglich einem reichen, weien Top-Model zu gleichen, ist ebenfalls zu kurz gegriffen. Was wir auf den improvisierten Laufstegen in «Paris is Burning» sehen, ist ganz offensichtlich ebenso «fake» oder ebenso «real» wie die Anzugtrger und Frauen in Business-Kostmen in den Alltagsszenen aus dem heterosexuellen Mittelschichtleben, die Livingston gekonnt dazwischen montiert. So kann man das Wetteifern um «Realness» als ein Bemhen um Nachahmung oder «Passing» lesen genauso gut aber auch als gewitzte Parodien auf den weien Amerikanischen Traum. Kein Wunder, dass der Film sofort von den zeitgleich aufkommenden Queer- und Gender-Studies aufgegriffen und in vielen Colleges gezeigt wurde, um Judith Butlers Konzept von «Geschlecht als Performance» zu illustrieren.
Durch seine nicht-lineare, nuancenreiche Machart zeigt der Film ganz nebenbei eine Vielfalt an Perspektiven und Identitten, die unter dem Sammelbegriff «queer» Platz finden wohl nicht zuletzt deshalb wirkt er auch heute noch so aktuell und wird immer wieder als Inspirationsquelle zitiert. Ohne «Paris is Burning» gbe es wahrscheinlich weder «RuPaul’s Drag Race» noch Serien wie «Pose» und «Legendary», oder die Doku «Kiki» von 2016, die sich einer neuen Generation der New Yorker Ballroom-Szene annimmt. Dass diese Serien und Filme von queeren Menschen of Color, die selbst in der Ballroom-Szene verortet sind, (mit)gestaltet werden, zeugt von einem gewachsenen Bewusstsein darber, wer wessen Geschichte erzhlen darf, und von einer graduellen Umverteilung von Einfluss und Ressourcen auch dies vielleicht ein Vermchtnis der Debatten rund um «Paris is Burning».
Vieles hat sich in den letzten 35 Jahren verbessert: Es gibt effektive Aids-Therapien, mehr (positive) mediale Reprsentationen von queeren und trans Menschen of Color und mehr Eltern, die ihre Kinder so akzeptieren, wie sie sind. Die Freirume und Refugien jedoch, die wir im Film sehen, sind fr immer verloren: Nicht lang nach Abschluss der Dreharbeiten wird Rudy Giulianis strikte Law-and-Order-Politik die ohnehin schon durch die fortschreitende Gentrifizierung in Bedrngnis geratenen Rume endgltig zerschlagen und Manhattan in ein familienfreundliches, dem Kommerz huldigendes Disneyland verwandeln. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir eine erneute Zunahme von Hassverbrechen gegen queere Menschen, transfeindliche Gesetzgebungen und ein Wiederaufleben von White-Supremacist-Ideologien sehen, wird das Fehlen von Rumen fr DIY-Kultur und Orten des lebendigen Widerstands, wie sie in «Paris is Burning» blhen und gedeihen, schmerzlich sprbar.
Die Artikelserie «Queer Cinema Classics» wird gefrdert durch die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Sie erscheint parallel bei sissy und queer.de.
Links zum Thema:
«Paris is Burning» bei Prime Video
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