Wie mittelalterlich ist die katholische Kirche?
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Wie mittelalterlich ist die katholische Kirche?

Die Vorgeschichte, die Vergewaltigung und das Verhr Johannes Mllers

Im Oktober 1474 wusste der junge Chorschler Johannes Mller nicht, wo er wohnen konnte, und freute sich, dass ihm der Kaplan des Basler Mnsters, Johannes Stocker, anbot, bei ihm zu wohnen, und ihm sogar eine eigene Schlafkammer anbot. Nach ungefhr zwei Wochen berredete Stocker den Knaben, dessen genaueres Alter in den Quellen nicht genannt wird, zu ihm in sein Schlafzimmer zu kommen, und wollte Sex mit ihm. Als Mller ihn auf die Strafbarkeit seiner Handlungen hinwies, erklrte Stocker: «Wenn alle, die solches tten, verbrannt wrden, dann blieben nicht 50 Mnner in Basel.»

Spter wurde Mller von Stocker mehrfach anal vergewaltigt. Mller vertraute sich daraufhin einer Magd Stockers und einem Domherrn an, die ihm rieten, sofort Stockers Haus zu verlassen. Sie verbanden dies mit dem Hinweis, dass es zwei anderen Chorschlern zuvor hnlich ergangen sei. Von der Vergewaltigung erfuhr ein bischflicher Richter, der die Aussage des Knaben am 30. Mai 1475 protokollierte. Dabei gab Mller an, dass Stocker zunchst zu ihm gesagt habe, dass er ihm «so hold» wie keinem Menschen sonst sei. Er habe ihn jedoch auch so brutal vergewaltigt, dass sein After noch nach mehreren Tagen geblutet und geschmerzt habe.

Das Verhr Johannes Stockers und die rechtlichen Folgen

Auch Stocker wurde verhrt und seine Aussage am 7. Juni 1475 festgehalten. ber den Ernst der Lage war sich Stocker wohl nicht ganz im Klaren. Er stellte nicht in Abrede, mit Johannes Mller mehrfach anal verkehrt zu haben. Er erklrte aber, dass der Knabe mit allen Handlungen einverstanden gewesen sei. Er habe mit ihm insgesamt 14-mal anal verkehrt angeblich mit vollem Einverstndnis des Knaben, der sich niemals gewehrt habe.

Stocker wurde danach zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt. Weil sich jedoch angesehene Brger fr Stocker einsetzten, wurde das Urteil, wohl auch aus finanziellen Grnden, in die Strafe des ewigen Exils umgewandelt. Stocker stimmte dem Verlust aller mter und Besitzungen zu und verpflichtete sich, den Rest seines Lebens auerhalb der Dizese in einem italienischen Kloster zu verbringen. Stocker beglaubigte dies handschriftlich und unterschrieb mit den Worten: «Johannes Stocker presbiter et sodomita» («Priester und Sodomit»).

Das Vokabular im Mittelalter ber Bbereien, Florenzen und Minnen

Die Bezeichnung «Sodomit» nimmt auf die alttestamentliche Erzhlung vom Untergang der Stdte Sodom und Gomorrha Bezug. Ihre Zerstrung galt seit dem Frhmittelalter als Strafe Gottes fr angeblich gleichgeschlechtliches Handeln ihrer mnnlichen Bewohner. Der Begriff «Sodomie» wurde jedoch nicht einheitlich gebraucht und bezeichnete auch andere nicht auf Zeugung ausgerichtete sexuelle Handlungen, wie zum Beispiel Sex mit Tieren.

Johannes Mller gab an, dass Stocker «Bberei» («bberye») mit ihm getrieben habe. Das Wort bedeutet allgemein «Schandtat», konnte aber in dieser Zeit u. a. auch ein abwertender Ausdruck fr homosexuelle Handlungen sein. Mit der heute gelufigen Bedeutung von «Bube» als «Knabe» hat es nichts zu tun. Es hatte damals eher die Bedeutung von «Schurke», heute noch enthalten in «Spitzbube».

Stocker verwendete fr den Analverkehr den Begriff «florenzen», der sich etymologisch gut zurckverfolgen lsst. Unter anderem werden in «Die Sprichwrter und Sinnreden des deutschen Volkes in alter und neuer Zeit» (1840, S. 176) die Begriffe «florenzen» und «Florenzer» mit folgendem Zitat erklrt: «Der sich lat florenzen, und der, so florenzet (nimm es active und passive,) sei eine Snde.» Als Quelle dieses Zitats wird der Straburger Geistliche Johann Geiler von Kaysersberg genannt, der bedeutendste deutsche Prediger des ausgehenden Mittelalters, der diese Begriffe in seinem Buch «Die Brsamlin» (1517, Seite VII, Vorderseite, zweite Seitenzhlung) verwendete und damit ungewhnlich deutlich auf die «Snde» des aktiven und passiven Analverkehrs einging.

Die gleichgeschlechtliche Vergewaltigung wird von Mller sehr deutlich beschrieben: Stocker habe mit Gewalt sein mnnliches Glied in seinen Hintern gebracht («mit gewalt sin mannlich gelid inn sinen hyndern»). An mehreren Textstellen geht es auch um gleichgeschlechtliche Gefhle, wobei «hold sein» und «minnen» (= lieben) heute zwar veraltet, aber auch ohne besondere bersetzung noch verstndlich sind.

Die Forschung: Die Historiker Wolfram Schneider-Lastin und Helmut Puff (1993)

Wolfram Schneider-Lastin und Helmut Puff waren die Ersten, die vor mehr als 30 Jahren in ihrem Aufsatz «‚Vnd solt man alle die so das tuend verbrennen, es bliben nit funffzig mannen jn Basel‘. Homosexualitt in der deutschen Schweiz im Sptmittelalter» (in: «Lust, Angst und Provokation. Homosexualitt in der Gesellschaft», hg. von Helmut Puff, 1993, S. 79-103) ber diese Akten berichteten. Das in der berschrift enthaltene mittelalterliche Zitat, dass also nur 50 Mnner in Basel «es» nicht tten, stammte stammt aus Stockers Gestndnis in den oben beschriebenen Akten. Aus diesem Zitat so die beiden Autoren spreche die Vorstellung Stockers, «einer von vielen zu sein, die so handeln ein immerhin gedachtes Gruppenbewusstsein». Dies verdeutliche, dass Homosexualitt im Mittelalter nicht nur als vorbergehende «Verhaltensweise», sondern auch als eine «Prferenz einzelner» wahrgenommen worden sei.

Auch ansonsten berzeugen die beiden Autoren durch ihre Bewertungen des Falls. Weil in den Verhrprotokollen die Aussagen beider Beteiligter enthalten sind, werden auch Aussagestrategien erkennbar. So stellte Stocker die sexuellen Handlungen als einvernehmlich dar. Der Chorschler gab offen zu, dass er wusste, dass die Todesstrafe drohte, und versuchte gar nicht erst, sich unwissend zu stellen.

Im Verhr uerte sich Stocker auch ber seine Gefhle fr den Chorschler. So habe er, als der Junge im Chor sang, seine Augen kaum von ihm lassen knnen. Der verwendete Wortschatz so die Autoren sei identisch mit dem ber die Liebe zwischen Mann und Frau, was verdeutliche, dass die Geschichte der Homosexualitt nicht nur eine Teilgeschichte von Sexualitt sei, sondern auch eine von Empfindungen und Liebe. Die Autoren sehen in den Dokumenten aus dem Mittelalter «kaum Anzeichen fr eine Subkultur, bestimmte Treffpunkte oder eine eigene Sprache». Aber die Annahme, dass es «im Mittelalter nur isolierte homosexuelle Handlungen» gegeben habe, msse so die Autoren weiter fallen gelassen werden. Helmut Puff hat spter zu diesen Akten noch weitere Verffentlichungen publiziert.

Die Forschung: Der Historiker Andreas Niederhuser (2001)

Die Akten zu den Vergewaltigungen des Chorschlers sind einer der Flle, die auch Andreas Niederhuser in seinem Aufsatz «’nemlich das yedtwederer dem anndern sin mennlich glid jn die hand genomen‘. Gleichgeschlechtliche Sexualitt zwischen Mnnern im Sptmittelalter» dokumentierte und historisch einordnete (in: «Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitten, Identitten und Krper in Perspektiven von Queer Studies», hg. von Ulf Heidel, Stefan Micheler und Elisabeth Tuider, 2001, S. 30-49). Dabei verwies er auf die vorherigen Forschungsergebnisse von Wolfram Schneider-Lastin und Helmut Puff und stellte Bezge zu anderen Homosexuellen im Mittelalter wie den Ritter Richard Puller von Hohenburg her.

Fr Niederhuser folgte Stockers Bekenntnis als «Priester und Sodomit» «offensichtlich den Vorgaben des Gerichts». Stockers Angabe zur angeblichen Anzahl der Homosexuellen in Basel spiegelte nach seiner Ansicht keine realen Verhltnisse wider, sondern seien «Schutzbehauptungen, die das eigene Verhalten rechtfertigen sollen». Niederhuser schlussfolgerte, dass Vorstellungen von mann-mnnlicher Sexualitt im Alltag des Sptmittelalters viel prsenter gewesen seien als es die meisten Dokumente aus dieser Zeit vermuten lieen. Die Akten gben auch einen seltenen Einblick in die Gefhlswelt und die Liebeserklrung des Kaplans knne von der verwendeten Sprache her ebenso gut an ein Mdchen gerichtet sein.

Die Forschung: Der Historiker Bernd-Ulrich Hergemller (2004, 2010)

Im Buch «Chorknaben und Bckerknechte. Homosexuelle Kleriker im mittelalterlichen Basel» (2004) des Historikers Bernd-Ulrich Hergemller ist der Fall des Chorknaben einer von zwei untersuchten Fllen aus Basel. Hergemller bietet nicht nur Hintergrnde zu dem Fall und Infos zur topografischen, politischen und sozialen Situation in der sptmittelalterlichen Stadt Basel (S. 7-25), sondern auch eine vollstndige Transkription der Originalquellen (S. 103-118) und eine bersetzung in heutiges Deutsch (S. 119-139) an.

Zustzlich versucht Hergemller, ohne dabei in plumpe Kirchenkritik zu verfallen, eine Brcke in die Gegenwart zu schlagen: «Die Tatsache, dass dieses mittelalterliche Prinzip (der Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit von sexuellen Handlungen fr Priester) von der katholischen Kirche bis heute aufrechterhalten und gegen alle modernen Kritiker(innen) verteidigt wird, fhrt dazu, dass auch die durch dieses System generierten Sexualprobleme trotz aller epochenspezifischen Unterschiede einen hohen Grad an Vergleichbarkeit aufweisen» (S. 8). Der Fall demonstriere darber hinaus auch die in der katholischen Kirche «offenbar nicht auszurottende Gewohnheit, skandalisierendes Fehlverhalten so lange zu ‚bersehen‘ und zu vertuschen, bis es sich angesichts einer aufmerksamen ffentlichkeit nicht mehr verheimlichen lsst» (S. 23).

Eine kurze Zusammenfassung des Inhalts der Akten bietet Hergemller auch in seinem online einsehbaren Lexikon «Mann fr Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mann-mnnlicher Sexualitt im deutschen Sprachraum» (2010, S. 1145-1146).

Warum steht auch in der Sozialgeschichte der Tter im Fokus?

In diesem und den nchsten beiden Abstzen mchte ich drei Aspekte aufgreifen und jeweils mit einer Frage einleiten, auf die auch die von mir zitierte Sekundrliteratur leider nicht eingeht.

Im Rahmen der Strafverfolgung von sexuellem Missbrauch geraten Opfer viel zu leicht aus dem Blick. Wie nicht anders zu erwarten, geht aus den untersuchten Akten nicht hervor, ob und, wenn ja, wie das Opfer Johannes Mller die Vergewaltigung durch seinen Kaplan psychisch verarbeitet hat. Aber auch in der oben genannten Sekundrliteratur wird auf diese Frage nicht eingegangen. Der Tter steht also auch dann im Fokus, wenn es gar nicht mehr nur um das Strafrecht, sondern um Sozialgeschichte geht. Bernd-Ulrich Hergemller schrieb, dass ein Opfer wie Johannes Mller «keinerlei Chance» habe, in einem blichen biografischen Lexikon Platz zu finden (2004, S. 22). Das ist aber keine Empathie fr das Opfer, sondern nur eine von Hergemller mehrfach geuerte und zum Teil nachvollziehbare Kritik an der herkmmlichen Geschichtsschreibung, die seiner Meinung nach die Geschichte von Schwulen lange Zeit weitgehend ignorierte. Ich hoffe, dass sich die Empathie fr die Opfer noch weiter verbessert.

Wurde frher zwischen einvernehmlichen Sex und einer Vergewaltigung unterschieden?

Wenn in anderen Fllen aus dieser Zeit auch einvernehmliche homosexuelle Handlungen schon mit dem Tod bestraft wurden, stellt sich die Frage, ob die Gerichte berhaupt zwischen einer Gewaltanwendung und Einvernehmlichkeit unterschieden haben. In den rechtlichen Definitionen des Tatbestandes der Sodomie spielte diese Frage keine Rolle. Das galt brigens auch fr das Alter: Kinder, Jugendliche und Erwachsen konnten gleichermaen «Tter» sein. Das galt sowohl fr die kirchliche als auch fr die weltliche Gerichtsbarkeit, war also nichts speziell Kirchliches. Das galt nicht nur fr Sexual-, sondern auch fr andere Delikte. Der Begriff der «Vergewaltigung» (in damaliger Terminologie: «Notzucht») wurde im Mittelalter und in der Frhen Neuzeit ausschlielich auf die sexualisierte Gewalt von Mnnern an Frauen angewandt.

In der Rechtspraxis spielten das Alter und die Frage der Einvernehmlichkeit, zumindest fr das Strafma, aber durchaus eine Rolle. Je jnger ein Beschuldigter war, desto bessere Chancen hatte er, dass das Gericht ihn milde behandelte, d. h. entweder eine geringere Strafe verhngte oder bei Kindern nur erzieherische Manahmen anordnete, wozu, neben religiser Unterweisung, auch Prgel gehren konnte. Bei Kindern und Jugendlichen konnten mehrere Milderungsgrnde zum Tragen kommen: Neben Alter und Gewalt ging es auch um Unwissenheit, die meist auf mangelnden religisen Unterricht zurckgefhrt wurde.

Die Anerkennung solcher Milderungsgrnde hing stark vom Verhalten der Beschuldigten in den Verhren und von der Einschtzung der Richter ab, die beim Strafma einen groen Ermessensspielraum hatten. Es gab auch eine erkennbare zeitliche Entwicklung: Aus den Justizakten in Brandenburg-Preuen sind Flle aus dem 16./17. Jahrhundert von Sodomie mit Tieren bekannt, in denen auch Kinder hingerichtet wurden. Im 18. Jahrhundert ist erkennbar, dass Kinder und Jugendliche milder als Erwachsene bestraft wurden.

Htte also auch der Chorknabe verurteilt werden knnen?

Die Akten enthalten keine Information darber, ob auch Mller angeklagt wurde. Die erhaltenen Akten des Prozesses gegen den Priester Stocker sind nur diejenigen eines kirchlichen Gerichts. Es ist durchaus mglich, dass auch Mller, da er kein Kleriker war, vor einem weltlichen Gericht, angeklagt wurde. Entsprechende Akten sind aber nicht bekannt. Es ist mglich, dass gegen Mller kein Prozess stattfand, weil die Sache rein innerkirchlich geregelt wurde, um den Skandal mglichst gering zu halten.

Falls es auch gegen Mller einen Prozess gegeben haben sollte, bekam er mglicherweise eine mildere Strafe als Stocker. Das ist aber schon alleine deshalb nicht sicher, weil er im Verhr zugab, gewusst zu haben, dass die sexuellen Handlungen streng verboten waren und damit Unwissenheit nicht geltend machen konnte. Ob er die Richter von der ausgebten Gewalt htte berzeugen knnen, ist offen. Unsere heutige Perspektive, dass alleine schon wegen des Abhngigkeits- und Frsorgeverhltnisses zwischen ihm und Stocker keine Freiwilligkeit vorliegen konnte, ist nicht auf das frhere Rechtsverstndnis bertragbar.

Was bis heute bleibt

ist zumindest die Mglichkeit, zwischen dem Verhalten der katholischen Kirche im Mittelalter und heute Parallelen zu erkennen, wie sie Bernd-Ulrich Hergemller (s. o.) aufgezeigt hat. Das Zlibat gilt bis heute und ebenso die Macht der Kirche wenn auch in weniger stark ausgeprgter Form. Aber kann man dieser von Hergemller vorgenommenen Parallelisierung wirklich zustimmen? Die katholische Kirche hat, jedenfalls in Europa, heute nicht mal mehr annhrend einen so groen Einfluss auf Staat und Gesetzgebung wie im Sptmittelalter. Heute kann jede*r aus der Kirche austreten, was damals nicht mglich war, und gerade die kirchliche Sexualmoral unterliegt heute zu Recht erheblicher ffentlicher Kritik. Das sind grundlegende, entscheidende Unterschiede, die einen direkten Vergleich zwischen der katholischen Kirche damals und heute als ziemlich schief erscheinen lassen.

Natrlich kann sich ein Vorfall wie in Basel mit anderen angedrohten Strafen jederzeit wiederholen, aber die Position der katholischen Kirche ist heute eine grundlegend andere. Heute unterliegen auch Priester selbstverstndlich der staatlichen Gerichtsbarkeit, und die katholische Kirche hat lngst nicht mehr die Machtstellung, die sie frher hatte. Die Sensibilitt fr sexualisierte Gewalt durch Reprsentanten der katholischen Kirche ist gestiegen, und ihre Opfer werden mittlerweile gehrt. Das ist ein Anfang.