
Das Leben ist gut, wenn wir einander Gutes tun
Die gute Nachricht zuerst: Ocean Vuong hat mit seinem neuesten Werk «Der Kaiser der Freude» (Amazon-Affiliate-Link ) einen richtig dicken und wirklich fulminanten Roman geschrieben, erschienen in der groartigen bersetzung von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl. Die schlechte Nachricht: Der Roman ist trotzdem schon nach 521 Seiten zu Ende. Der erste Satz darin lautet: «Das Schwerste auf der Welt ist, nur einmal zu leben.» Und der letzte Satz: «Weiche, einfache Menschen, die nur einmal leben.» Damit ist auch schon die groe Klammer benannt, die diesen Roman erzhlerisch zusammenhlt es ist das Leben als Ganzes und die Gefahr, es zu verpassen und sich dabei in lauter Lebenslgen zu verlieren.
Das klingt alles andere als optimistisch. Und um ehrlich zu sein, ist manches in dem Roman nur schwer ertrglich, und zwar so wie jedes Leben unertrglich wird, wenn es auf Lgen und Illusionen aufgebaut ist und jeder Schritt von der Angst begleitet wird, dass es stets ein Schritt vor dem Abgrund ist. Dennoch, auch im permanenten Sinkflug geht das Leben seltsamerweise immer weiter und weiter.
Der vermeintliche Medizinstudent lebt auf einer Mllhalde
Vuong zerlegt mit seinem neuen Roman komplett den American Dream, den millionenfachen Traum vom Glck. Sein Anti-Held Hai endet dabei buchstblich im Mll, weich gebettet auf groen Mllscken, whrend er, vollgedrhnt mit Hydromorphon, seiner Mutter am Telefon vorgaukelt, er wrde als fleiiger Medizinstudent in Boston gerade seinem Studium nachgehen und Leichen sezieren.
Ein Happy End kann es darin nicht geben. Aber wer wrde das von Vuong ernsthaft erwarten? Dass dieser Roman von einer schonungslosen Abrechnung mit einer in jeder Beziehung ausbeuterischen Gesellschaft geprgt ist, ist die eine Seite darin und lediglich die halbe Wahrheit.
Die andere Hlfte wei von einer berhrenden Menschlichkeit, von Freundschaft und Verbundenheit, wo sie am wenigsten erwartet wird, aber dafr umso fhlbarer wird. Das ist dann keine luftleere Nummer wie jener American Dream, keine Leuchtreklame hohler Versprechungen zum An- und Ausschalten, sondern etwas tief im Menschen Sitzendes das Gute, das wirklich zhlt. Oder wie es im Roman an einer Stelle heit es gehe um das «Okaysein» und nicht unbedingt um das Glcklichsein. Denn das Glck ist flchtig, das Okay bleibt und wird trotzdem unterschtzt, so Vuong.
Ein unerbittlicher, schonungsloser Realismus
Ocean Vuong, 1988 in Saigon/Vietnam geboren, zog im Alter von zwei Jahren zusammen mit seinen Eltern in die USA, wo er seither lebt. Er ist Lyriker, und es war nicht zuletzt die poetische Sprache seines Debtromans «Auf Erden sind wir kurz grandios» von 2019, die sofort auffiel und zur literarischen Qualittsmarke wurde. In «Der Kaiser der Freude» kehrt sie nun wieder, aber ebenso ein unerbittlicher, schonungsloser Realismus. Die Genauigkeit seines Blicks erinnerte mich immer wieder an David Foster Wallace, der wie Vuong den American Dream in «Infinite Jest» als monstrses Alptraum-Panorama beschrieb. Der erste Roman wurde zu einem internationalen Erfolg. Dem gerade erschienenen neuen Roman bleibt es zu wnschen.
Wieder steht ein junger Mann mit vietnamesischen Wurzeln im Mittelpunkt sein Name ist Hai. Auch kehrt eine Familie zurck, wie wir sie aus dem ersten Roman bereits kennen, und wieder arbeitet die Mutter in einem Nagelstudio in Connecticut. Alles scheint irgendwie gleich zu sein und ist doch vllig verndert.
Hai glaubt, fertig zu sein mit seinem jungen, ziemlich verkorksten Leben. Er hat seinen Freund Noah durch eine berdosis von irgendwas verloren, schmeit das Studium, kommt nicht weg von den Pillen und will seinem Leben ein Ende machen. Zuvor hatte er sich von seiner Mutter verabschiedet mit der Lge, das Studium in Boston wieder aufnehmen zu wollen. Doch sein Ziel ist die Eisenbahnbrcke ber dem Fluss in East Gladness, einem schbigen Ort in der Nhe von Hartford.
Die demenzkranke Grazina rettet Hai das Leben
Eine alte Frau mit Namen Grazina beobachtet Hai und kann den Sprung von der Brcke verhindern. Sie ist eine litauische Emigrantin und berlebende des Zweiten Weltkriegs, die inzwischen allein in einem heruntergekommenen Haus wohnt. «Du siehst aus wie ein eingetunkter Keks», sagt sie ber Hai, der ihr folgt. Er erzhlt ihr: «Frher wollte ich Schriftsteller werden. Mein Traum war, einen Roman zu schreiben, der alles enthlt, was ich liebe, auch das nicht Liebenswerte. Wie eine kleine Vitrine.»
Weil Grazina sich auf dem Weg in die Demenz befindet, braucht sie jemanden, der auf sie aufpasst. Und so schlieen sie und Hai einen Vertrag. Er wohnt im Haus und kmmert sich um Grazina. Im nahegelegenen Schnellrestaurant «HomeMarket» findet er schlielich Arbeit. Grazinas Haus in der Hubbard Street und der «HomeMarket» sind die beiden zentralen Handlungsorte. Dazwischen gelegentliche Rckblenden in die Familiengeschichte.
Den Job erhlt er durch seinen Cousin Sony, der dort bereits arbeitet. Schnell wird klar, dass der Ort, wo auer ihm und Sony noch Wayne, Maureen, Russki und die Geschftsfhrerin BJ arbeiten, fr ihn zu einer Heimat wird: «Nie im Leben hatte er sich so zugehrig gefhlt, so unsichtbar in einer sichtbaren Gruppe von Menschen.» Das Lokal selbst sei weniger ein Restaurant «als vielmehr eine gigantische Mikrowelle», wobei der Kundschaft die Illusion verkauft werde, alles sei als gute amerikanische Hausmannskost frisch zubereitet, als gbe es dort jeden Tag Thanksgiving zu feiern. Es sei nun mal so, dass aus Lgen «unglaubliche Dinge entstehen [knnen]. Musst nur den guten alten Uncle Sam fragen.»
Flchtige Momente schwulen Begehrens
Dass Hai schwul ist, bleibt nebenschlich und taucht kurz episodisch in einer Bettszene in einem Motel auf und ebenso kurz in den Erinnerungen an den verstorbenen Noah. Ansonsten gibt es nur drei flchtige Momente schwulen Begehrens. Sie gelten vor allem Russki, den Hai bei der schweitreibenden Arbeit beobachtet: «Was in Hai den Wunsch weckte, ihm die Stirn sauber zu wischen und mit den Lippen seinen Nacken zu berhren.» Und spter bemerkte Hai, dass der Junge wirklich hbsch sei, «aber auf die besondere Weise, die sich erst offenbart, wenn man einen Menschen eine Zeitlang kennt».
Doch weder Grazina, die Hai ihren Freund nennt, noch das Gefhl der Geborgenheit im «HomeMarket» bringen eine Wende. Die Lgen und Tabletten sind strker. Letztere nennt er «das kleinste Rettungsflo, das er je kennengelernt hatte». Er schafft es nicht, seiner Mutter die Wahrheit zu sagen. Auch der frhere Entzug im «New Hope Recovery Center» misslang. Sein Geist, so sagt er ber sich selbst, sei «komplett aufgedrselt, berall da hngen geblieben, wo ich mich verheddert habe».
Grazina kommt ins Pflegeheim
Ein Jahr geht vorber, und es kommt, wie es kommen muss. Grazina wird ins Pflegeheim verfrachtet. Der Roman nennt diesen Ort den einzig wahren egalitren Flgel des amerikanischen Traums, weil er alle darin gleich mache. Es seien Festungen, die die alternden Krper vor dem Blick abschirmen. Und auch die Belegschaft des «HomeMarket» geht auseinander.
Der Roman erzhlt kurz, wie es mit jedem Einzelnen weiterging. Nur Hais Zukunft wird uns nicht verraten. Denn er wisse nicht, wie es geht, hier zu sein, im Leben. Und whrend er auf den Mllscken liegend mit seiner Mutter telefoniert, antwortet sie: «Aber hab keine Angst vor dem Leben, mein Junge. Das Leben ist gut, wenn wir einander Gutes tun.»
Ja, dieser Roman ist auch eine Zumutung wie es nur das Leben sein kann. Aber die Momente groer Menschlichkeit darin sind von Gewicht. Ich warte jetzt gerne auf den nchsten Roman oder Gedichtband.
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