
Hrt auf die queeren Kinder!
Kurz vor einem Seminar am Institut fr Sexualpdagogik und Sexualtherapie in Zrich hatte ich das Buch «Queer Kids» (Amazon-Affiliate-Link ) das erste Mal in der Hand. In den Gruppenarbeitsphasen in Zrich ergaben sich Gelegenheiten, darin zu stbern. Allein mit ihren Geschichten berzeugen die Kinder und Jugendlichen. Im Grunde ist das Ergebnis: Erwachsene, nehmt euch weniger ernst hrt auf die Kinder und Jugendlichen. Sie sind viel weiter als wir!
Da ist Lia, die den Band erffnet. Lia ist zehn Jahre alt und schreibt besonnen und empowernd aus ihrer Biografie: «Als ich viereinhalb Jahre alt war, haben wir einen Kuchen gebacken und sind damit in den Kindergarten gegangen. Wir haben dann halt gesagt, dass ich jetzt Lia bin. Fr die Kinder war das kein Ding, fr sie war ich die ganze Zeit schon ein Mdchen. Weil ich vorher schon immer gesagt hatte, dass ich ein Mdchen bin und Lia heien will.» (S. 19f.)
Ein trans Mdchen geht ihren Weg
Lia ist ein trans Mdchen. Sie geht ihren Weg gegen Widerstnde. Die Untersttzung der Eltern ist wichtig, musste aber auch erst einmal kommen. Und aus den Erluterungen von Lia wird deutlich, welche Verantwortung Lehrer*innen haben: «Ich habe dreimal eine neue Lehrerin bekommen: in der ersten, dritten und fnften Klasse. Jedes Mal haben meine Eltern vorher mit der Lehrerin geredet und ihr gesagt, dass ich ein trans Mdchen bin. Dieses Jahr war ich bei dem Gesprch dabei. Nervs war ich nicht, denn die Lehrerinnen haben es alle super akzeptiert. Wenn jemand fies zu mir war, waren sie immer auf meiner Seite. Fragen haben sie schon gestellt, aber nie dumme Fragen. Sie fragten zum Beispiel, wie sie mir helfen knnten, wenn ich gemobbt wrde und es mir deswegen schlecht geht.» (S. 20)
Lia ist taff, wie die anderen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in diesem Band. Und der Auftakt mit Lia macht exemplarisch deutlich, was sich gesellschaftlich bewegt hat. Wir sind heute an einem anderen Punkt als in den 1970er Jahren (wunderbar dargestellt in diesem Artikel), gleichwohl wissen Lehrkrfte noch immer zu wenig, obwohl die Schule die wichtige Bildungsinstanz ist. Lia und andere Kinder und Jugendliche erstreiten sich heute ihren Raum in der Schule. Sie sind sichtbar, erfahren Untersttzung aber auch Gegenwehr. Die Abwehr kann verletzend sein und viel auslsen; sie findet schlielich in einer sehr sensiblen Lebensphase statt.
Herausforderungen werden genommen
An den Beitrag von Lia schliet sich der von Christelle 17 Jahre an, die eine bisexuelle Perspektive skizziert. Auch Christelle hat eine Familie, in der einzelne Personen untersttzend wirken andere ein «Abwarten» signalisieren. Es zeigt sich eine Situation, die viele Kinder und Jugendliche aktuell haben. Und auch daher sind die Lsungen, die eigenen biografischen Beschreibungen, so erhellend. Herausforderungen werden genommen und schlielich erweitert sich das untersttzende Umfeld.
So auch bei Luan, der 14-jhrig, seine Perspektive in den Sammelband einbringt: «Dass ich schwul bin, wei ich schon ziemlich lange. [] Seit ich zwlf bin, wei ich es explizit. Es fing damit an, dass ich sehr vernarrt in den Snger Shawn Mendez war. Aber auch beim Filmeschauen, wenn die meisten Jungs sagen: ‹Ui. Ist die aber schn!› fand ich oft einen mnnlichen Schauspieler toll. So habe ich es mit der Zeit gemerkt. Aber damals am Ende der Primarschule war meine Klasse nicht so tolerant. ‹Schwul› war das Hauptschimpfwort, und es wurde viel gemobbt.» (S. 42)
Herausforderungen zeigen sich auch bei Luan, aber es gibt auch Untersttzung: «Meine Cousine und mein Onkel sind offener. Ihnen habe ich mich anvertraut, und sie haben mir sehr geholfen. Sie rieten mir zur Schulsozialarbeiterin zu gehen. Sie hat mir geholfen, mich selber zu akzeptieren, und mir den Kontakt einer anderen Schlerin vermittelt, die schon lnger out ist.» (S. 43) Das sttzt auch fr das Coming-out im Elternhaus und prgt die Sicht auf den Umgang mit anderen Menschen. Obgleich die Eltern bei der Gemeindeverwaltung arbeiten, interessierten sie sich nicht fr Politik. Luan: «Sie finden manchmal, dass ich zu links bin. Man msse die rechte Seite auch akzeptieren. Ich sage dann: ‹Ich akzeptiere alle Menschen, aber nicht alle Ansichten.'» (S. 48) Das kann man fr die Bundesrepublik Deutschland als Leitspruch in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremisten und den Brckenbauern zu ihnen derzeit insgesamt so stehenlassen.
Erhellende Momente
Auch die weiteren Beitrge der Jugendlichen skizzieren die Normalitt, wie sie dem 21. Jahrhundert gerecht wird. Und sie kontern noch vorhandenen Vorannahmen, dass Kinder und Jugendliche unreflektiert und zu gngeln seien. Da ist Lara. Sie schreibt: «Ich bin 15 Jahre alt, aber manchmal fhle ich mich wie 13, weil die Zeit so schnell vergangen ist. Und manchmal wie 17, reifer als andere in meinem Alter. Viele Leute schtzen mich auch lter. Seit wann ich wei, dass ich ein Mdchen bin? Eigentlich schon immer. Als ich vier, fnf Jahre alt war, habe ich mich immer in die Schals meiner Gromutter eingewickelt und von meiner Mama die Schminke geklaut. Ich habe mir die Ngel ausgemalt und die Haare wachsen lassen. [] So richtig gemerkt habe ich es dann in der fnften, sechsten Klasse.» (S. 105f.)
Bei Lara war die Mutter untersttzend: «Sie hat mich direkt voll untersttzt. Sie machte gleich einen Termin bei der SIPE in Brig, um uns beraten zu lassen. Und in derselben Woche sagte sie: Du musst es der ganzen Familie, also Gromama, Gropapa, Papa sagen.» (S. 106) Die Gromutter nahm das Trans-Sein gut auf, der Opa reflektierte und folgte und mittlerweile hat auch der Papa hat es aufgenommen und wirkt untersttzend.
Solche Momente sind heilend, einerseits weil viele derjenigen, die jetzt diesen Beitrag lesen, es nicht so erlebt haben. Oft brauchte es lange Zeit, bis Gesprche mit zuvor nahen Angehrigen und Bekannten mglich wurden. Andererseits, weil so deutlich wird, wie der Mensch selbst, mit seinen eigenen Kennzeichen, zunehmend im Mittelpunkt stehen kann und Untersttzung erfhrt. Die Kmpfe der letzten Jahrzehnte zahlen sich aus!
Auftrge an die Community
Gleichwohl bleiben Lcken und auch Auftrge an die Community hier an die schwule Community. So beschreibt Yaro, der mittlerweile 20 Jahre alt ist und interkulturell/ intersektional einige Hrden zu nehmen hatte, wie seine Sehnsucht nach Nhe und Menschlichkeit auch in der schwulen Community zunchst mit Gewalt beantwortet wurde: «Wenn du als junger schwuler Mann in diese Community kommst, wollen dich alle, weil du frisch und neu bist.» (S. 207)
Yaro brauchte Kraft, um mit Blick auf die Familie und das nhere soziale Umfeld seinen individuellen Weg zu gehen und seine Sexualitt zu leben. Er traf in der schwulen Community auf einen unwesentlich lteren Mann, der ihn vergewaltigen wollte. Er konnte sich wehren, indem er ihn nicht eindringen lie und dieser Mann sich damit zufrieden gab, dass sie schlielich gemeinsam onanierten. (Hinweis: Der Tatbestand der versuchten und mglicherweise auch der vollendeten Vergewaltigung besteht dennoch.)
Yaro brauchte anderes und formuliert eben auch einen Auftrag an «uns», die Community: Die queere Community ist eben kein «sicheres Hinterland», sondern sie ist von Gewalt und von Sympathie mit Rechtsextremismus durchzogen, wie es sich auch anderswo in der Gesellschaft zeigt. Hier gilt es zu arbeiten: ltere haben eben kein Anrecht auf Jngere. Und Rechtsextremismus ist eben keine Meinung, sondern eine Haltung, die uns alle und viele weitere Menschen auch gefhrdet.
Ein empfehlenswertes Buch
Die Perspektiven der Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen sind multidimensional, sie machen Herausforderungen im Leben sichtbar und geben Auftrge an die Gesellschaft insgesamt, auch an die queere Community. Aber die Beitrge strahlen eine solche Kraft aus, eine solche Liebe am Sein, am Menschsein, sodass man nicht an den Belastungen stehenbleibt.
Das Buch ist allen als gute Lektre empfohlen! Ob abends im Bett oder in der U-Bahn, fr Wartebereiche in Beratungsstellen der Sozialen Arbeit und der medizinischen, psychologischen/ psychotherapeutischen Beratung: «Queer Kids» fhrt in queere Perspektiven von Kindern und Jugendlichen ein. Es lohnt. Und die Beitrge lesen sich rasch weg.
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