
Zrtlich, radikal und beraus prsent: Das waren die queeren Highlights in Cannes
Das queere Kino hat in Cannes lngst seinen Platz gefunden doch selten waren einzelne Beitrge so vielfltig, so fordernd und zugleich so radikal in ihrer filmischen Sprache wie in diesem Jahr. Sichtbar wurde das weniger im Wettbewerb um die Goldene Palme als in der traditionsreichen Nebenreihe «Un Certain Regard».
Eigentlich als Bhne fr aufstrebende Talente gedacht, stand sie 2025 ebenso im Zeichen prominenter Debts: Neben Scarlett Johansson und Harris Dickinson feierte auch Kristen Stewart mit «The Chronology of Water» ihre Premiere als Regisseurin. Ihr Film wagt sich weit hinaus ber gewohnte Genregrenzen. Ihre Adaption der Memoiren von Lidia Yuknavitch ist ein wilder, fragmentarischer Ritt durch Trauma und Lust, durch Krperlichkeit und Sprache bildgewaltig, radikal subjektiv und doch intim.
Insgesamt begeisterten in diesem Jahr vor allem jene Filme mit LGBTI-Bezug, die schwule, lesbische und bisexuelle Erfahrungen nicht nur darstellen, sondern filmisch neu denken wollten, zwischen Zrtlichkeit und Zumutung, Selbstermchtigung und Selbstzerstrung.
Ein berblick ber die Highlights fnf Filme, fnf Formen queerer Prsenz: Vom bikulturellen Coming-of-Age in der Banlieue ber lesbische Mutterfiguren im Sorgerechtskrieg bis hin zu einer berraschenden Verfilmung eines schwulen SM-Romans. Sie alle erzhlen von Begehren und davon, was es kostet, es nicht zu verleugnen.
Wettbewerb: «The History of Sound»
Die Besetzung sorgte schon im Vorfeld fr Aufsehen: Paul Mescal, der bereits in «All of Us Strangers» (2023) mit leiser Intensitt einen queeren Charakter verkrperte, und Josh O’Connor, der zuletzt in Luca Guadagninos fiebriger Tennisromanze «Challengers» berzeugte, bernehmen die zentralen Rollen. Unter der Regie von Oliver Hermanus der 2011 mit «Beauty» die Queer Palm gewann treffen ihre Figuren in einer zarten, durch Musik verwobene Liebesgeschichte in Zeiten des Ersten Weltkrieges aufeinander.
Basierend auf einer Kurzgeschichte von Ben Shattuck folgt der Film dem sensiblen Lionel (Mescal), der Gerusche «sehen», Melodien «fhlen» und Rhythmen «schmecken» kann eine Gabe, die ihn aus der Armut Kentuckys bis ans «New England Conservatory of Music» in Boston bringt. Dort begegnet er David (O’Connor), mit dem ihn die Leidenschaft fr Folk-Musik und schlielich eine heimliche Liebe verbindet.
Die Mnner reisen spter durchs lndliche Amerika, sammeln Lieder auf Wachsrollen, die zu akustischen Zeitkapseln des Alltags werden. Visuell erinnert das an die Naturpoesie von Kelly Reichardt («First Cow»), emotional aber bleibt «The History of Sound» bisweilen zu distanziert von seinen Figuren. Vor allem, als sich die Wege der beiden Mnner vorschnell wieder trennen und Lionel mit seiner Gabe auch in Europa zu Erfolg gelangt.
Was bleibt, ist ein musikalisch aufgeladenes Portrt verpasster Chancen, das mit seiner feinen Melancholie letztlich dennoch berhrt.
Wettbewerb: «La Petite Dernire» / «Die jngste Tochter»
Mit «La Petite Dernire» bringt Hafsia Herzi den gleichnamigen Roman von Fatima Daas auf die Leinwand und verleiht dem lesbischen Coming-of-Age-Kino eine neue Stimme. Im Zentrum steht die junge Fatima (intensiv verkrpert von Nadia Melliti), Tochter algerischer Einwanderer*innen, aufgewachsen in der Banlieue. Sie betet, ist glubige Muslima, gleichzeitig hngt sie mit Jungs ab, ist rau, direkt und zunehmend verunsichert von ihrer Anziehung zu Frauen.
Ihre Selbstfindung verluft nicht in einfachen Stationen, sondern tastend: erste Begegnungen in queeren Bars, zgerliche Gesprche mit lteren Frauen, schnelle Sex-Erfahrungen, zrtlich und roh. Die Beziehung zur Koreanerin Ji-Na (ebenfalls einnehmend: Park Min-ji) wird zur ersten ernsthaften Verbindung doch religise Zweifel, familire Erwartungen und gesellschaftlicher Druck lasten schwer auf beiden Frauen.
Hafsie Herzi inszeniert mit seltener Sinnlichkeit und direkter Krperlichkeit. Sexualitt wird hier nicht verschmt wegerzhlt, sondern als Motor von Selbstentdeckung begriffen. Zwlf Jahre nachdem «Blau ist eine warme Farbe» in Cannes fr Furore sorgte (und schlielich die Goldene Palme gewann), wirkt «La Petite Dernire» wie dessen selbstbewusste queere Schwester: weniger Male Gaze, mehr weibliche Autonomie und vor allem: beeindruckende Authentizitt.
Un Certain Regard: «Pillion»
Wer Adam Mars-Jones› Roman «Box Hill» kennt, wird sich wahrscheinlich nicht nur darber gewundert haben, dass der Stoff filmisch adaptiert wird, sondern auch darber, dass das Werk zudem im Rahmen des wohl renommiertesten Filmfestivals der Welt seine Premiere feiert. Denn das Buch erzhlt, angesiedelt in den 1970er Jahren, in aller Explizitheit von einer recht radikal gelebten sadomasochistischen Beziehung und enthlt Szenen, die man mindestens als eine «Herausforderung» fr das Mainstream-Kino bezeichnen kann. Wie also darstellen, was von einer Mehrheit hchstwahrscheinlich als «Grenzberschreitung» wahrgenommen wird?
Der Regisseur und Drehbuchautor Harry Lighton findet mit «Pillion», wie die Adaption nun heit, eine berraschende Antwort: Indem man den Geschehnissen einen komdiantischen Anstrich verleiht und die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren in die Nhe einer leichtfigen Rom-Com rckt, die nun in der Gegenwart spielt. Colin (Harry Melling, bekannt vor allem als Dudley aus «Harry Potter») ist kein neugieriger 18-Jhriger mehr, sondern ein erwachsener Ordnungsbeamter, den seine liberalen Eltern unbedingt verkuppeln mchten und schlielich in der BDSM-Welt von Ray (Alexander Skarsgrd) landet.
Die sadomasochistische Dynamik bleibt, doch Harry Lighton nimmt ihr die Schrfe und bringt stattdessen Humor, Charme und berzeichnung ins Spiel. Zwischen Bikertreffen in Lack und Leder, sexuell aufgeladenen Pokerrunden und weihnachtlichem Chor-Auftritten im Pub entwickelt sich eine queer-verspielte Buddy-Sex-Komdie. Die Lust wird dabei nie ganz ernst genommen, der Fetisch bleibt Kulisse fr schrge Pointen.
Das ist mal klug ironisch, manchmal ein bisschen feige gegenber dem Originaltext. Unter alledem schimmert ein echtes Interesse an queerer Andersartigkeit durch, originell ist «Pillion» allemal, gewagt im Hinblick auf Mainstream-Gefilde sowieso nur leider ohne die faszinierende Intensitt des Ausgangsmaterials.
Un Certain Regard: «Love Me Tender»
Basierend auf dem autobiografischen Roman der franzsischen Literatursensation Constance Debr erzhlt «Love Me Tender» die autobiografische Geschichte einer Frau, die alles hinter sich gelassen hat ihren angesehenen Beruf, ihre jahrelange Beziehung mit einem Mann, vor allem aber die engen brgerlichen Erwartungen anderer. Vicky Krieps spielt diese Figur mit zurckhaltender Intensitt: eine Anwltin aus gutem Haus, die sich offen zu ihrer lesbischen Identitt bekennt und dadurch ins gesellschaftliche Abseits gert.
Besonders drastisch zeigt sich das im Kampf um das Sorgerecht fr ihren Sohn, bei dem ihre sexuelle Orientierung und ihr Lebenswandel durch Noch-Ehemann Laurent (Antoine Reinartz) zur vermeintlichen Gefahr stilisiert werden. Der Preis der Selbstermchtigung ist hoch und er wird hier nicht pathetisch, sondern nchtern verhandelt. Regisseurin Anna Cazenave Cambet verzichtet auf laute Gesten. Stattdessen seziert sie, fast dokumentarisch, wie sich emotionale Bindungen unter juristischer Aufsicht verndern. Den siebenjhrigen Paul (Viggo Ferreira Redier) darf Clmence vorerst nur noch unter Aufsicht treffen.
Trotzdem fragt «Love Me Tender» nicht, ob ihre Entscheidung richtig war, sondern zeigt, wie viel Kraft es kostet, sie durchzuhalten. Dabei ffnet der Film auch Rume jenseits der Repression: die neue Ttigkeit als Schriftstellerin, eine erste feste Beziehung mit einer Frau, ein Leben zwischen WGs und im Entwurf werden thematisiert. Zudem zeigt der Film ein anderes Mutterbild eines, das nicht auf Abhngigkeiten, sondern auf Autonomie basiert. So wird aus Debrs kompromissloser Vorlage eine przise und eindringliche filmische bersetzung: ein stiller, langsamer, oftmals auch zu langsamer, Bericht darber, was es bedeutet, sich selbst nicht lnger zu verleugnen.
Un Certain Regard: «The Chronology of Water»
Kristen Stewart hat nicht nur Regie gefhrt, sondern mit «The Chronology of Water» ein vielversprechendes Manifest dafr geschaffen, welche erzhlerischen und visuellen Wege sie als Filmemacherin einschlagen mchte. Ihre Adaption der Memoiren der bisexuellen Autorin Lidia Yuknavitch ist wild, schmerzhaft, unbndig: ein rauschhafter Kino-Trip, der fragmentarisch Erinnerungen, Traumata und Befreiungsversuche verknpft und durch seine Sprache, eine eindringliche Off-Stimme, zusammenhlt.
Es geht um Missbrauch in der Familie, eiserne Sportdisziplin als Richtschnur, Drogenexzesse als selbstzerstrerische Ablenkung und das Schreiben als letztliche berlebensstrategie. Sex mit Frauen flackert auf, eine Fehlgeburt, ein Autounfall und ein Mentor namens Ken Kesey (Autor von «Einer flog ber das Kuckucksnest»). Der Film ignoriert die lineare Logik und erzhlt stattdessen in Wellenbewegungen passend zum titelgebenden Wasser, das sich durch die Biografie Lidias, eine leidenschaftliche Schwimmerin, zieht.
Imogen Poots berzeugt in jeder Phase dieser Identittsexplosionen, und Kristen Stewart inszeniert radikal krperlich: Hautunreinheiten, Brusthaare, Trnen, Blut und weibliche Masturbation haben darin Platz. Die Kamera von Corey C. Waters sucht nicht nach Schnheit, sondern Wahrheit und findet so am Ende schlielich beides. «The Chronology of Water» ist radikal weiblich, queer und kunstvoll. Ein Film, der mindestens so mutig ist wie mitreiend.
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