Zwei Generationen wollen queere Geschichte retten
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Zwei Generationen wollen queere Geschichte retten

Es beginnt im Palast. Was mal ein Hotel oder Pflegeheim in der Wste des Mittleren Westes gewesen sein muss, hat seinen Glanz verloren. Ohnehin, bemerkt der Ich-Erzhler, «gibt es in diesem Land keine Palste». Hier, Tausende Kilometer von der Metropole entfernt, in der er zuletzt lebte, begegnet er Juan Gay. Im heruntergekommenen Palast, der vielleicht einer Wohlttigkeitsorganisation gehrt, hat Juan ein Zimmer. Sein letztes Zimmer.

Der alte Mann hat nicht mehr viel Zeit vor sich, er ist nur noch ein Skelett, ein Schatten seiner selbst. Deshalb hat er ihn zu sich geholt, den 27-jhrigen Mann. Den er Nene nennt, «Kleiner» auf Spanisch, das versteht er, obwohl er trotz puerto-ricanischer Wurzeln nur schlecht Spanisch spricht.

Die lesbische Forscherin soll endlich anerkannt werden

Juan Gay mchte, dass Nene nach seinem Tod sein Projekt weiterfhrt: Er hatte das wissenschaftliche Werk «Sex Variants: A Study of Homosexual Patterns» entdeckt, berst mit Schwrzungen. Doch es sind, zumindest scheint es so, keine Zensuren. Vielmehr entsteht durch die Streichungen ein neuer Text im Text mit einer ganz eigenen, oft lustigen Bedeutung.

Juans Anliegen: Diese medizinische Studie von 1941 soll wiederentdeckt werden. Nicht nur das, vor allem soll die Autorin Jan Gay die Anerkennung erfahren, die ihr bei der Arbeit an «Sex Variants» verwehrt geblieben war.

Homosexuelle seien «sozial unangepasste Personen»

Dazu muss man lnger ausholen: Jan Gay, als Helen Reitman geboren und selbst lesbisch, kannte Magnus Hirschfeld und fhrte fr die Studie ber 300 Interviews mit Schwulen und Lesben. Sie arbeitete mit dem Psychiater George W. Henry an der Studie, der jedoch hatte ein anderes Ziel als Jan Gay: Whrend sie die Vielfalt der schwul-lesbischen Community zeigen wollte, sah Henry queere Menschen als Gefahr fr Heteros.

Jan Gay verlor mehr und mehr die Kontrolle darber, wie die Interviews in der Studie verarbeitet wurden. Schlielich erschien das zweibndige Werk «Sex Variants: A Study of Homosexual Patterns», ohne ihre Leistung zu wrdigen.

Und schlimmer: George W. Henry schrieb darin, Homo­sexuelle seien «sozial unangepasste Personen, die sich nicht an die gesellschaftlichen Gesetze und Konventionen anpassen konnten» und fr die deshalb «berufliche, psychiatrische und institutionelle Behandlung» in Frage komme.

Mischung aus Fakt und Fiktion

Jan Gay war entsetzt. Ihre Arbeit wurde missbraucht. Und obwohl «Sex Variants» einen gewissen Einfluss auf medizinische Fachkreise hatte, wurde ihr Name fast vollstndig vergessen. Erst seit Kurzem wird ihre Leistung wiederentdeckt.

Denn, und hier vermischt «Blackouts» (Amazon-Affiliate-Link ) Fakt und Fiktion: Es gibt diese Studie, die 1902 in Leipzig geborene Jan Gay hat wirklich gelebt und war daran beteiligt. All das sind historische Fakten. Spter lebte sie mit der Illustratorin Zhenya Gay zusammen, sie verfassten Kinderbcher und ein Buch, das Nudismus feiert. Was fr eine Frau. Und was fr eine Familie: Ihr Vater war Ben Reitman, der anarchische Obdachlosenarzt und Pionier in der Prvention von Geschlechtskrankheiten.

Vor zehn Jahren waren die zwei in derselben Psychiatrie

Dieses Projekt also soll der Ich-Erzhler weiterfhren. Und er verspricht es Juan, auch wenn er gar nicht genau wei, weshalb. «Ich fhlte auf Anhieb die Anziehungskraft dieser Bcher, das Mysterium, das von ihnen ausging; ein Werk der eingehenden Betrachtung, verwandelt in ein Werk der Auslschung.»

Nene hat unzhlige Fragen an Juan, ber das Buch, ber die Zusammenhnge, ber Jan Gay. Doch Juan lsst sich Zeit, obwohl er nicht mehr viel Zeit hat. Zuerst einmal solle er ihm mehr ber ihn erzhlen. Was alles passiert ist, seit sie sich zum letzten Mal gesehen haben denn die beiden kennen sich. Es ist knapp zehn Jahre her, dass sie in derselben Psychiatrie waren. Also erzhlt er, Juan antwortet, reagiert, manchmal schnippisch und frech, dann voller Verstndnis.

Eine Lektre wie eine Spurensuche

«Blackouts» ist ein Roman, bei dem es wahnsinnig schwer fllt, sich ihm zu nhern. Sein Inhalt lsst sich zwar zusammenfassen, doch es wird dem Text kaum gerecht. Denn er erzhlt nicht linear, sondern schweift ab und greift Fden irgendwann wieder auf. «Blackouts» ist weder fiktional noch an Fakten orientiert, sondern bewegt sich irgendwo dazwischen, mischt Erdachtes mit Wahrem, bis man es selbst nicht mehr auseinanderhalten kann. Das kann anstrengend sein, aber lohnt sich.

Die Form des Romans ist unkonventionell und collagenhaft: Der Text wird nicht nur von den geschwrzten Seiten von «Sex Variants» ergnzt, sondern auch von Fotos und Zeichnungen. Die «scheuklappenhaften Endnoten» helfen, doch ist wieder nicht ganz klar, was hier wahr und was fiktional ist. Die Lektre gleicht einer Spurensuche und ffnet viele Themen, zu denen man mehr wissen mchte. Und am Ende mchte man gleich wieder bei der ersten Seite beginnen, um mit dem gesammelten Wissen so manches Fragezeichen zu beseitigen.

Zwei Generationen sprechen auf Augenhhe

Das macht «Blackouts» von Justin Torres zu einem der bemerkenswertesten queeren Romane seit Langem. Der US-amerikanische Autor, 1980 geboren, gewann dafr vor zwei Jahren den «National Book Award for Fiction».

Nicht nur die detailverliebte Sprache von Torres› zweitem Roman (bersetzung: Stephan Kleiner) und die ungewhnliche Form machen den Roman aus. Auch thematisch erffnet er eine groe Bandbreite: Angefangen bei der Kommunikation zweier schwuler Mnner aus verschiedenen Generationen. Ihr Kontakt ist auf Augenhhe, sie helfen einander nicht nur der Junge dem Alten, auch wenn es von auen nicht so wirkt.

Wer hatte die Macht, ber queere Menschen zu schreiben?

Hier herrscht ein riesiges Ma an Vertrauen und inniger Nhe, die berhrt. Das geht soweit, dass der Ich-Erzhler die Nchte in Juans Bett verbringt, «wo ich seine Knochen und die papierene Haut spren und seinen fauligen Atem einsaugen konnte und wusste, dass er noch nicht fort war».

Schlielich teilen sie aber auch ein Interesse: Sie fragen sich stellvertretend fr die Leserschaft -, wer ihre Geschichte geschrieben hat. Wer die Macht hatte, ber queere Menschen und queeres Leben zu publizieren und damit die ffentliche Meinung zu beeinflussen. Und wer dabei unterging. Und wie das eigentlich sein kann, und was man dagegen tun kann. Zumindest eine Antwort von vielen ergibt sich ganz von selbst: den Roman lesen.

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