Diversittsprfung nicht bestanden
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Diversittsprfung nicht bestanden

Der Buchtitel hatte mich neugierig gemacht. Mit dem Namen des Autors jedoch konnte ich nichts anfangen. Das ist umso erstaunlicher, weil es sich um einen Erfolgsautor mit sage und schreibe 24 lieferbaren Titeln handelt alle im renommierten Suhrkamp Verlag erschienen. Bei genauerer Betrachtung wurde mir allerdings klar, warum Wilhelm Schmid bislang noch nicht auf meiner Leseliste stand. Er schreibt gerne und viel ber sogenannte Lebenskunst und um dieses philosophisch verbrmte Genre, das bei mir unter Lifestyle-Verdacht steht, mache ich einen groen Bogen. Nicht weil ich von Lebenskunst nichts halte, im Gegenteil, aber als Individualistin vertraue ich ganz meinem eigenen Kompass.

«Die Suche nach Zusammenhalt. Ich und Wir: Vom schnen und schwierigen Leben in Gesellschaft» (Amazon-Affiliate-Link ) klingt vielversprechend, oder? Und fr eine trans Frau wie mich, die ihre sehr speziellen Erfahrungen mit dem Ich und dem Wir besitzt und der es immer auch um gesellschaftliche Dazugehrigkeit ging, passte der Titel auf jeden Fall. Jedoch enthlt eine Verpackung leider nicht immer, was sie verspricht. Dabei ist nicht zu verkennen, dass auf den fast 470 Seiten eine Menge kluger und treffender Beobachtungen zusammenkommen, die Schmid bei seinen Spaziergngen durch unseren gesellschaftlichen Alltag fand. Das trifft auch auf viele seiner Gedanken zu, die sich daraus entwickeln.

Alle Klisches ber den «alten weien Mann» besttigt

Dass der 1953 geborene Autor mit der Charakterisierung «alter weier Mann» gern ironisch kokettiert, um das Label unter Ressentiment-Verdacht zu stellen, ist geschenkt. Doch zur Ironie der Geschichte gehrt, dass er dann immer und immer wieder all das besttigt, was wir mit diesem Synonym verbinden. Er besttigt, ohne es offenbar zu bemerken, die Klischees, die das Label «alter weier Mann» zusammenfasst: Besserwisserei, berheblichkeit, Ignoranz, Privilegiertheit und noch einiges mehr.

Das kommt bei Schmid keineswegs plump daher. Im Gegenteil, er beherrscht das Maskenspiel perfekt und gibt sich als ein abwgender, philosophisch geschulter Denker in sprachlicher Eloquenz. Charakteristisch dieses Einerseits und Andererseits, um sich mal auf diese oder mal auf jene Seite zu schlagen oder aber mit einer eigenen, hausgemachten Weisheit einen Schlussstrich zu ziehen. Doch Meinung bleibt Meinung. Selbstzweifel kennt der Autor so gut wie nicht und tritt am liebsten als eine Art philosophischer Seelsorger auf, entsprechend pastoral ist die Tonlage. Das mag nicht allen liegen, mir auf keinen Fall.

Horizontverhrtungen im fortgeschrittenen Stadium

Wie gesagt, das schliet Kluges und Lebenskluges keineswegs aus. Um ein paar Beispiele zu geben: «Wer sich auf den Umgang mit sich selbst versteht, kann sich auch eher Anderen zuwenden.» Oder wenn es heit, Selbstverwirklichung sei nur vollstndig mit Beziehungsverwirklichung. Das wissen marginalisierte Gruppen nur allzu gut. Aber die Frage ist, wenn unsere Sozialitt keine Einbahnstrae ist, liegt es nur an uns selbst, gesellschaftlich connectet zu sein?

Er mchte gerne zur «gedanklichen Mobilitt der Gesellschaft» beitragen und lsst von Fall zu Fall bei aller behaupteten denkerischen Professionalitt selbst Mobilitt vermissen. Denn, was regt einen «alten weien Mann» besonders auf? Ganz sicher Identittspolitik, gendergerechte Sprache, Cancel Culture, Wokeness. Da bleibt mir nur brig, Horizontverhrtungen im fortgeschrittenen Stadium zu diagnostizieren.

«Fast alle fhlen sich irgendwie diskriminiert»

Wenn ihm beispielsweise beim Lesen ein * begegnet heit es: «Ich nehme die Unterbrechung im Text jedes Mal ernst und lese nicht weiter.» Das ist weder intelligent noch witzig, sondern ignorant. Da befindet er sich ausnahmsweise auch nicht auf der sonst bevorzugten Hohen Warte (einer muss ja den berblick haben), sondern in den Niederungen des Mainstreams. Da hilft auch nicht die Erklrung, das Sternchen lasse die Augen stolpern und stre den Lesefluss. Mein Ratschlag ist eine alte Regel: bung macht den Meister.

Und was sollen wir davon halten, nmlich wir queeren Menschen, die Tag fr Tag Beleidigungen, Hass und Gewalt erfahren, wenn der philosophische Seelsorger zu weniger Empfindlichkeit rt? Und so spricht der «alte weie Mann»: «Es ist die Fixierung des Ich auf sich, bei der das Wir der Gesellschaft nur noch dazu da ist, die vielen Empfindlichkeiten des Ich zur Kenntnis zu nehmen. Fast alle fhlen sich irgendwie diskriminiert, herabgewrdigt, ’nicht gesehen›, ’nicht gehrt›, jedes Ich ein rohes Ei [].»

Schmid hat zu allem etwas zu sagen

Ansonsten hat er zu allem etwas zu sagen, ob das die Landwirtschaft, der Kapitalismus, die Deutsche Bahn, Corona, Schwangerschaftsabbruch, Wokeness, Werbestrategien, Streiks, die pestizidverseuchten Lebensmittel, Social Media oder was auch immer sei. Was permanent fehlt, das ist ein selbstkritisches Bewusstsein der eigenen Privilegien und damit zusammenhngend ein kritisches Bewusstsein fr strukturelle Benachteiligungen. Denn sein «Wir» kommt mir doch an viel zu vielen Stellen seines Buches ziemlich exklusiv vor.

«Es ist ein Akt der Lebenskunst, eine Normalitt zu schaffen, in der es sich leben lsst.» Ein bisschen platt und dazu ein Rat, der sich in den tautologischen Schwanz beit. Man sollte besser ber soziale Verhltnisse, Ungleichbehandlung, Rassismus, Sexismus und politische Macht sprechen, sofern man es ernst meint mit einer lebenswerten Normalitt.

Bizarr wird es schlielich, wenn Schmid beim Thema Faschismus erklrt, diesen haben all jene die Bahn bereitet, die keinen Geschmack am eigenen Leben gefunden haben. Also die Nazi-Gren zumindest hatten reichlich Geschmack am eigenen Leben gefunden. «Faschismus ist auch eine Frage der Einstellung zum Leben.» Gewiss, gehrt eine gewisse Einstellung dazu. Und weil Schmid das offenbar als Merksatz versteht, ist der Satz in kursiv gesetzt. Aber heit das dann beispielsweise, wir bekmpfen die AfD am besten durch Lebenskunst? Au Backe, lieber Herr Erfolgsautor!

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