
Warum ist Thomas Mann ein «homophober Homosexueller»?
Er ist gerade ein gefragter Mann: Der Literaturhistoriker Tilmann Lahme gibt zum 150. Geburtstag von Thomas Mann am 6. Juni 2025 ein Interview nach dem anderen. Mit seiner hochgelobten Biografie «Thomas Mann. Ein Leben» ist er auf Lesereise in ganz Deutschland. Schon vor zehn Jahren schrieb er ber die Geschichte der Familie Mann jetzt folgt die erste Biografie, die den Literaturnobelpreistrger vor allem vor dem Hintergrund seiner Homosexualitt betrachtet.
Trotz vollem Kalender nimmt Tilmann Lahme sich lange Zeit, um mit queer.de zu sprechen, berichtet von Versuchen, Thomas Manns Briefe mithilfe von Knstlicher Intelligenz zu transkribieren. Dabei half seine Tochter. Denn obwohl es vielleicht naheliegen wrde: Dem Literaturhistoriker diente keine persnliche Betroffenheit als Motivation, sondern sein «detektivisch-historisches Interesse» an Thomas Mann.
Heute wrde Thomas Mann seinen 150. Geburtstag feiern. Angenommen, er wre noch am Leben und Sie wren eingeladen was wrden Sie ihm zum Geburtstag wnschen?
Einerseits natrlich all das Beste. Und dass er sieht, wie sein Werk Bestand hat. Denn vor der Nachwelt hat er ein bisschen Sorge gehabt. Wenn er jetzt sieht, dass er als der bedeutendste deutsche Autor des 20. Jahrhunderts gilt, dann htte ihn das enorm gefreut. Auf der anderen Seite: Wenn der Thomas Mann von heute sehen knnte, wie sich das alles entwickelt hat, wei ich nicht, ob es ihn freuen wrde. Oder ob er sich umso mehr fragen wrde, wie er sein Leben gestaltet hat und ob es nicht vielleicht das falsche Leben war. Aber das ist schwierig zu sagen. Insofern lassen wir ihn mal lieber in seiner Zeit.
Historiker*innen sprechen ja ohnehin viel lieber ber die Vergangenheit. Aber bleiben wir noch kurz in der Gegenwart. Im Thomas-Mann-Jahr kommt man gar nicht an ihm vorbei, es gibt ein neues Sachbuch nach dem anderen, Neuauflagen, Sonderdrucke. Wie erklren Sie sich seine anhaltende Popularitt, vor allem auch im Vergleich zu anderen Autor*innen des 20. Jahrhunderts?
Ich glaube, die ungebrochene Faszination, die Thomas Mann ausbt, hat verschiedene Quellen. Zunchst das Literarische: Bedeutende Autoren altern unterschiedlich gut, denken wir an Bll, Hoffmannsthal oder Brecht. Der Weg fhrt leicht in die Klassiker-Ecke. Dann wird man oft nur als Schullektre wahrgenommen und wenig geliebt, weil nur vom Lehrplan verordnet, nicht freiwillig gelesen. Thomas Mann aber hat ein hartnckiges Lesepublikum, das ihn nach wie vor schtzt, vielleicht gerade weil er nicht so schreibt wie alle anderen oder wie die Gegenwartsautoren. Gegner sagen, das sei manieriert, und die Bewunderer sagen, so schn und so przise ist nie geschrieben worden. Dann kommt noch seine Rolle in der Politik als groer Gegner Hitlers dazu. Und schlielich sein persnliches Leben und seine groartige Frau und die Familie voller Talente. Sicher geht auch eine Faszination von all dem Geheimnisvollen aus, das ihn umgibt.
Das Interesse gilt gar nicht nur seiner Literatur, sondern auch seiner Person und seiner Familie. Warum?
Er hat etwas Reprsentatives. Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, die Manns sind die Windsors der Deutschen. Das ist sehr zugespitzt, aber da ist schon etwas dran. Man sieht eine Familie, die auf eine besondere Art herausragt, in vielem typisch deutsch, aber in vielem nicht so ganz typisch. Thomas Mann ist erst einmal politisch regelrecht ein Reaktionr, dann wandelt er sich und wird zum groen Verteidiger der Demokratie und Gegner des Dritten Reiches. Das ist eine unglaubliche Entwicklung. Gerade jetzt im Jubilumsjahr wird er sehr stark mit Blick auf diese politische Rolle hin betrachtet. Diese reprsentative Funktion umfasst die ganze Familie und ihren Kampf. Und alle sind so talentiert, aber auch da ist ein Abgrund mit dabei: Drogensucht, Konflikte, viele Liebesgeschichten, viel Drama.
Sie haben eine weitere Biografie von Thomas Mann geschrieben, obwohl es schon fast 50 gibt. Mit welchem Ziel?
Eigentlich war das gar nicht mein Ziel. Ich htte keine Thomas-Mann-Biografie geschrieben, wenn mir nicht vor zehn Jahren, als ich ein Buch ber die Familie Mann geschrieben habe, eine Sache immer klarer geworden wre: Viele der Geschichten, die wir ber die Familie hren und die sie auch selbst erzhlt hat, stimmen nicht, und vielleicht legen sie sogar bewusst falsche Fhrten aus. Thomas Mann ist so ein fantastischer Autor, der alles in der Schwebe hlt, Ambivalenzen und ein Sowohl-als-auch zeigt. Was er autobiografisch erzhlt, klingt hingegen glatt und harmonisch. Kaum Widerstnde, keine Zweifel, eine gradlinige Erfolgsgeschichte im Leben und in der Literatur. Alles soll immer schon auf den groen Autor der «Buddenbrooks» und des «Zauberberg» hingefhrt haben. Das ist alles so unglaubhaft, und das hat meine Neugier geweckt.
Sie hatten also einen Anfangsverdacht, dem Sie nachgegangen sind?
Ja, so kann man das nennen. Ich hatte schon beim Buch ber die Familie gemerkt, dass da Legenden verbreitet werden, die einfach nicht stimmen, wenn man sich die zeithistorischen Dokumente, Briefe oder Tagebcher anguckt.
Was hat Sie bei der Recherche am meisten berrascht?
Am meisten berrascht hat mich, wie entschlossen anerkannte Thomas-Mann-Forscher sich einen Thomas Mann zurechtgelegt haben, wie man ihn gerne htte: nicht homosexuell. «Wenigstens» bisexuell. Oder alles nur «sptpubertre Verwirrungen». Dafr wurden wichtige Dokumente versteckt und nicht gedruckt, Tagebuchpassagen gestrichen und die Wahrheit verbogen. Aber ich muss das prziser machen: Es gibt ganz fantastische Thomas-Mann-Forschung, die den Fragen nach sexueller Identitt im Werk sehr genau beleuchtet, die Tonio Krger als queere Lektre liest und so weiter. Aber ein Teil der Forschung, der sich dezidiert biografisch mit Thomas Mann beschftigt, mchte das offenkundig so nicht sehen bis hin zu wirklich allerhrtesten Argumenten und sprachlichen Entgleisungen. Wenn da jemand den homosexuellen Thomas Mann untersucht, und es heit, da werde mit der «Homosexualittskeule» nach Thomas Mann geschlagen
In Teilen mchte man also den ffentlichkeitstauglichen Thomas Mann bewahren, und der darf nicht homosexuell sein. Das klingt homophob, oder?
Ja, sehr zugespitzt msste man das so sagen. Man sollte natrlich vorsichtig sein mit solchen Zuspitzungen, aber ich glaube, bei manchen ist das bestimmt der Fall. Die eben genannte «Homosexualittskeule» gehrt bestimmt dazu. Und diese Haltung hatte auch harte Auswirkungen. Karl Werner Bhm hat 1991 eine sehr interessante Dissertation vorgelegt, in der er der homosexuellen Spur im Leben und Werk Thomas Manns gefolgt ist. Der Rezensent im Thomas-Mann-Jahrbuch, ein anerkannter Professor und Thomas-Mann-Experte, hat das Buch besprochen, sich aber inhaltlich nicht wirklich darauf eingelassen. So etwas darf es nicht geben, war die Haltung. Ein «Verhngnis», es muss Schluss sein mit dieser «Erotik-Forschung», hie es wrtlich. Das ist ein Forschungsverbot, das ausgesprochen wird. Und mit der Haltung stand der Rezensent nicht allein. Karl Werner Bhms Dissertation wird heute viel zitiert. Seine eigene wissenschaftliche Karriere endete 1991.
Dabei hatte die Literaturwissenschaft doch nach der Verffentlichung der Tagebcher ab 1977 allen Grund, so einiges anders zu betrachten.
Thomas Mann war der groe reprsentative Autor mit einzigartigen Bchern, dem Nobelpreis, dieser beeindruckenden politischen Geschichte, einer interessanten Familie und einer hochbegabten Frau. Und dann kommen pltzlich die Tagebcher heraus, und pltzlich sieht man: Da war noch etwas anderes. Das war damals fr die Forscher eine Herausforderung, sich einen neuen Thomas Mann vorzustellen. Das geht dann offenkundig nur in kleinen Schritten. Erstmal sagte man, es gab da wohl diese Neigung, aber, ganz wichtig, die wurde nicht ausgelebt. Er bleibt ein guter Ehemann und Vater, trotz der «homoerotischen Neigung», die er in seinem Werk sublimiert hat. Aber diesen Thomas Mann musste man sich regelrecht zurechtlegen. Man brauchte zum Beispiel entschiedene Striche im Tagebuch, um zu verbergen, wie sehr Thomas Mann mit der ehelichen Sexualitt gehadert und darunter gelitten hat und wie sehr es ihn eigentlich in die andere Richtung zieht.
Die Reaktionen auf Ihr Buch zeigen, dass das nicht nur eine Frage der Forschung ist. Einerseits wird die Biografie gefeiert, steht etwa auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste der Zeit, doch die NZZ nennt es ein «voyeuristisches Buch», das «sich am Blick durchs Schlsselloch ergtzt».
Ja, und das deckt sich mit den Rckmeldungen, die ich bekomme. Ich spre genau zwei uerungen: Die einen, die das sehr interessiert aufnehmen, und die anderen, die es entschlossen ablehnen. Es gibt quasi nichts dazwischen. Da sind viele Leute, die nach Lesungen ins Gesprch kommen wollen, aber es gibt immer eine Person, die kopfschttelnd dasitzt und sich «ihren» Thomas Mann nicht anders vorstellen mag als er bisher erschien.
In Ihrer Biografie sammeln Sie auf zwei Seiten alle Streichungen der Tagebcher inklusive sehr intimer Details. Haben Sie sich gefragt, ob das in Ordnung ist?
Diese Doppelseite sollte den Zensurstrich des Herausgebers als Bild zeigen. Da geht es nicht um die einzelnen Eintrge. Wichtig ist, dass man sieht, wie das Tagebuch zensiert wurde trotz der Behauptung, es sei alles da und es gbe keinen anderen Thomas Mann als den, den man prsentiert. Und natrlich habe ich mich gefragt, ob das angemessen oder indiskret ist, und das intensiv mit dem Verlag diskutiert. Es gibt aus meiner Sicht dazu zwei wesentliche Punkte. Erstens: Kann man diese Biografie und die Literatur von Thomas Mann berhaupt verstehen, wenn man das weglsst? Ich sage: Nein, kann man nicht. Wie soll ich ihn denn zeigen, wenn ich das hier nicht belegen kann? Die zweite Frage ist, wie Thomas Mann selbst dazu stand. Und da muss man ganz klar sagen: Er wollte nicht zu Lebzeiten als homosexueller Autor geoutet sein, er hatte davor eine Riesenfurcht und sich besondere Mhe gegeben, literarisch ein bisschen was zu zeigen und ganz viel zu verstecken. Aber er hat eine ganz klare Haltung dazu gehabt, was einmal sein soll. Er hat uns diese Tagebcher hinterlassen. Er wollte, dass die Welt ihn ganz kennt. Er wollte, dass der Ruhm sich nicht mehr nur auf seine Literatur bezieht, sondern dass die Menschen auch sehen, wie viel Leid und Qual dahintersteckte. Er hat gewollt, dass wir heute sehen, wie sehr er ringen musste.
Thomas Mann hat seine Homosexualitt verheimlicht, aber er wollte entdeckt werden?
Er ist einer der allergrten Meister des Versteckens. In seinem Werk hlt er uns dauernd etwas vor die Nase und verbirgt es dann doch. Es gibt immer diese zwei Seiten, sodass man ihn im fiktiven Raum berhaupt nicht zu fassen kriegt. Sein Spitzname «der Zauberer» ist also wirklich nicht so schlecht gewhlt. Aber wir mssen uns vergegenwrtigen, dass Thomas Mann kein Homosexueller ist, der das zu seiner Zeit nicht leben durfte und deswegen eine Fassade aufgebaut und das Ganze in den Bereich des Heimlichen geschoben hat. Es ist komplizierter bei ihm. Er kommt aus den trben Zeiten des 19. Jahrhunderts, lernt Homosexualitt kennen als «degenerative Hirnerkrankung», so liest er das in dem mageblichen sexualwissenschaftlichen Standardwerk dieser Zeit von Krafft-Ebing. Er versteckt sich nicht in einer Ehe, sondern er stellt sich wirklich vor, dass diese Ehe ihn heilen und befreien kann von seinen homosexuellen Sehnschten. Zugleich aber, und das macht es kompliziert, sieht er, wie unglaublich wertvoll das fr ihn ist, denn er braucht es fr seine Literatur. Er kann ohne seine Homosexualitt kein erfolgreicher Autor sein. Er wollte etwas in der Lebenspraxis einhegen, was er literarisch so dringend bentigt.
Da bekommt man fast Mitleid.
Absolut. Aber er zeigt sich an vielen Stellen auch nicht so sehr sympathisch. Gerade der junge Thomas Mann behandelt seinen Freund Otto Grautoff, seinen Schicksalsgefhrten und Vertrauten, von oben herab. Und zugleich ist er enorm interessiert an dessen Konversionstherapie mit Hypnosebehandlung. Einerseits uert er sich wirklich unsolidarisch und unfreundschaftlich. Aber dann hat man auch wieder Verstndnis dafr, dass er nicht in sich ruhend, freundlich und ausgeglichen agiert.
Nicht nur ber Otto Grautoff, auch ber die sichtbar werdende Homosexuellenbewegung in Berlin uert er sich abfllig. Sie bezeichnen Thomas Mann deshalb als einen «homophoben Homosexuellen».
Es gibt keinen Beleg, dass er zu dieser Zeit in Berlin war. Aber es zieht ihn dorthin. Man kann nur vermuten, dass ihn das alles vielleicht doch interessiert hat. Er redet monatelang davon, jetzt unbedingt nach Berlin zu wollen, aber wozu? Literarisch ist Mnchen viel interessanter, und schon dort ist es ihm zu gro, laut und stdtisch. Politisch ist er zu der Zeit noch vllig uninteressiert. Es gibt also nichts, was ihn nach Berlin locken knnte als der erstaunlich liberale Umgang mit Homosexualitt dort. Aber er fhrt dann doch nicht hin. Als er die Berliner Homosexuellen so abwertend beschreibt, ist das eher das Berlin, das er aus dem Buch vom Arzt Albert Moll kennt, der ber die «Contrre Sexualempfindung» schrieb.
Und als sein Sohn zum Klaus spter nach Berlin geht, uert er sich sehr zurckhaltend.
Ja, und wie mssen wir uns das berhaupt vorstellen? Der Thomas Mann, der sein Leben lang mit sich und seiner sexuellen Identitt ringt, hat einen Sohn, der mit 17 Jahren nach Berlin geht und offen homosexuell lebt und darber auch noch schreibt. Das ist ein Riesenkonflikt. Und es gibt natrlich nicht eine einzige Zeile direkter Kommunikation dazu. Und es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass sie je offen miteinander ber dieses Thema gesprochen htten.
Lassen Sie uns zum Schluss doch noch einmal wagen, ber die Zukunft zu sprechen: Sie zitieren intensiv aus den Memoiren von Thomas Manns Jugendfreund Otto Grautoff, die unpubliziert in einem Pariser Archiv liegen. Und 2004 tauchen bis dahin unbekannte Briefe von Thomas Mann an ihn auf. Glauben Sie, dass man in irgendwelchen Archiven, Dachbden oder Flohmrkten noch mehr finden knnte, was den Blick auf Thomas Mann noch einmal ergnzen wrde?
Das wre in jedem Fall sehr zu wnschen. Um es nochmal zu betonen: Nicht in voyeuristischer Hinsicht, sondern eben im Blick auf ein Leben, das sich ganz der Literatur widmet. Aber Thomas Mann war sehr entschlossen, das alles zu vernichten. Beim frhen Tagebuch hat er wirklich alles dafr getan, dass nichts mehr da ist. Er hat sich erst sehr spt entschieden, diesen anderen Thomas Mann, so wie wir ihn jetzt sehen knnen, zu hinterlassen.
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