
Das Problem hat einen Namen: Patriarchat
Fast zeitgleich gab es jetzt zwei wichtige Verffentlichungen zum Thema geschlechtsspezifischer Gewalt in unserer Gesellschaft: Das ist zum einen das vom Bundeskriminalamt (BKA) vorgestellte «Bundeslagebild Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023» (PDF) und zum anderen und gewissermaen als Antwort darauf ein vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) verffentlichter Gesetzentwurf (PDF), an dem schon lnger gearbeitet wurde und der auch sogleich in die Verbndebeteiligung ging. Der genaue Titel lautet «Gesetz fr ein verlssliches Hilfesystem bei geschlechtsspezifischer und huslicher Gewalt». Wobei die Hoffnung besteht, in den noch verbleidenden Wochen bis zur Bundestagswahl das Gesetz durch den Bundestag zu bringen.
Mit den zeitlichen berschneidungen ist es damit noch nicht genug, denn der heutige Montag wie jeder 25. November seit mehr als vierzig Jahren ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Er trgt mittlerweile auch die Bezeichnung Internationaler Tag gegen patriarchale Gewalt. Mir scheint das treffender, denn hier wird das Grundbel von Geschlechterdifferenz, Sexismus, Misogynie und geschlechtsspezifischen Machtverhltnissen beim Namen genannt, und Trans- und Homofeindlichkeit kommen ebenfalls von da.
Mit der Identifizierung von Ttern ist es nicht getan
Denn es sollte wohl klar sein, dass es bei der Gewalt gegen Frauen nicht mit der Identifizierung von Ttern getan ist, sondern dass wir es vielmehr mit einem strukturellen und systemischen Problem zu tun haben nmlich mit einer nach wie vor patriarchalen Kultur, zugespitzt im Machismus. Ebenso klar ist die Tatsache, dass trotz aller bereits bestehender, aber chronisch unterversorgter Hilfesysteme und trotz aller Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik wir in Sachen Gewaltbekmpfung leider kein Stck weiter sind. Im Gegenteil.
Und weil auch der Trans Day of Remembrance erst letzte Woche war, sollte bitte nicht die Gewalt gegen trans Frauen aus dem Blick geraten auch wir sind Frauen. Auch wenn das gewisse Gruppen, die sich Feministinnen nennen (mit welchem Recht eigentlich?), nichts anderes tun, als trans Frauen das Frausein abzusprechen, um mal eben deren geschlechtsspezifische Gewalterfahrungen zu ignorieren. Eine alte und traurige feministische Erkenntnis ist, dass Feministinnen keineswegs frei von sexistischem Verhalten sind eine Unterabteilung davon ist jedenfalls die Transfeindlichkeit. Und um dem noch eine Krone aufzusetzen, werden trans Frauen nach wie vor mit einer Opfer-Tter-Umkehr konfrontiert. Wir haben das im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsgesetz sozusagen in Endlosschleifen von Terfs gehrt.
Gewalt und Hasskriminalitt nehmen weiter zu
Das Lagebild des BKA ist die erste Verffentlichung dieser Art. Das statistische Material vermittelt uns zwei elementare Erkenntnisse: Erstens, die Gewalt und Hasskriminalitt nehmen weiter zu und zweitens, Gewalt gehrt zum Alltag von Frauen. Besonders stark wchst dabei und kaum berraschend die digitale Gewalt, etwa das Cyberstalking.
Familienministerin Lisa Paus (Grne) erklrte aus Anlass der Vorstellung der BKA-Dokumentation, die sie zusammen mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) letzte Woche absolvierte: «Die Zahlen dieses ersten Lagebilds zeigen: Gewalt gehrt zum Alltag von Frauen. Das ist beschmend. Und den bedrohten, geschlagenen und um ihr Leben frchtenden Frauen ist es vollkommen egal, wer regiert. Sie bentigen niedrigschwelligen Schutz und Beratung.» Das «egal, wer regiert» war wohl als Einladung an die Union zu verstehen, sich zur Abwechslung mal in gesellschaftspolitischer Verantwortung zu ben.
Denn an genau dieser Stelle kam der Hinweis der Ministerin auf die Gesetzesinitiative eines verbesserten Hilfesystems. An der Notwendigkeit besteht kein Zweifel, aber kritisch betrachtet handelt es sich doch nur um eine Behandlung der Symptome. Denn die weiterhin offene Frage ist doch, wie kommen wir an die Wurzel des bels? Oder anders gefragt: Wie schaffen wir das Patriarchat ab, dem Frauenhass und Sexismus entstammen?
Trans Perspektive nicht aus dem Blick verlieren
Weil nun mit Blick auf das Gesetz alles recht schnell gehen soll, hatten die Verbnde nur 48 Stunden Zeit fr ihre Stellungnahmen. Dass sie den Ausbau von Schutz und Beratung begren, darf man als selbstverstndlich voraussetzen. Und so begrte die AWO, dass es auf diese beiden Elemente knftig einen Rechtsanspruch geben soll. Sie moniert jedoch, dass der Entwurf den Schutz eingrenze auf die «gegenwrtigen Gefhrdungen», was zu kurz greife, weil auch die psychische Gewalt mit einbezogen werden msse etwa als Androhung von ttlicher Gewalt.
Fr die Frauenhauskoordinierung ist der Entwurf eine schon lange berfllige Absicherung des Hilfesystems und sie fordert deshalb entschieden: «Dieses Gesetz muss verabschiedet werden [] ein Verschieben in die nchste Legislatur ist unbedingt zu vermeiden.» Sie kritisiert, dass das Gesetz erst ab 2027 greifen und der Rechtsanspruch erst ab 2030 wirksam werden soll. Der Deutsche Juristinnenbund beklagt, dass die Gewaltdefinition einen immer wichtiger werdenden Bereich ausklammert, nmlich die digitalen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt. Das gehre explizit in den Gesetzestext hinein und nicht nur irgendwo im Begrndungsteil. Im Blick zu behalten bleibt, und das wre meine Anmerkung aus der trans Perspektive, wer am Ende als Frau wahrgenommen und wie ernst man es in diesem Zusammenhang mit der geschlechtlichen Identitt nimmt.
Um auf die Frage nach der Wurzel des bels zurckzukommen. Diejenigen, die fr den Referentenentwurf verantwortlich zeichnen, haben wohl eine Ahnung von der Tragweite des Problems, wenn sie in der Einleitung schreiben: «Geschlechtsspezifische Gewalt und husliche Gewalt sind ein strukturelles gesamtgesellschaftliches Problem mit massiven Auswirkungen fr die Betroffenen, aber auch fr die Gesellschaft als Ganzes.» Wie gesagt, das Problem hat einen Namen Patriarchat. Genau darum geht es, wenn wir von struktureller und systemischer Gewalt sprechen.
Die Vorschlge von Franoise Vergs
Die Vorschlge, die in dieser Sache von der Schwarzen Feministin Franoise Vergs kommen, sind radikal. Sie kommen aus der Einsicht, dass man und hier folgt Vergs einem globalen, weltumspannenden Blick auf das Thema die Gewalt nicht von der gesellschaftlichen Stellung der Frau lsen kann, weil es dann nur darum gehe, «‹gewaltttige Mnner› zu identifizieren und zu bestrafen [], ohne diejenigen Strukturen aufzugreifen, die diese grauenhafte Gewalt erst hervorbringen».
Und weiter: «Eine Debatte darber, wie Frauen vor systemischer Gewalt geschtzt werden knnen, darf sich nicht anhand von binren Unterteilungen Frauen als Opfer, Mnner als Tter vollziehen, die dem mnnlichen, vergewaltigenden Staat die Rolle des Beschtzers bertragen, denn die Femizide sind der ‹ultimative Ausdruck eines Kontinuums der Macht, das mit dem Vorherrschen sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten, sexueller Belstigung und Gewalt sowie den sexistischen Reprsentationen, die die soziale Vorstellungskraft und den ffentlichen Raum bestimmt, beginnt».»
Wer sich mit Vergs Gedanken genauer befassen will, dem sei das Buch «Eine feministische Theorie der Gewalt» (Amazon-Affiliate-Link ) dringend empfohlen, erschienen im Passagen Verlag. Ein Rezept, wie das Patriarchat abgeschafft werden kann, finden wir darin freilich auch nicht, aber doch Wahrnehmungen, die uns von der Illusion befreien, mehr Hilfe sei schon die Lsung. Auch diese Lektre passt haargenau zum 25. November und hat zudem den Vorzug, ber den deutschen und europischen Tellerrand hinauszuschauen, um beispielsweise Rassismus und Kolonialismus mit einzubeziehen.
Das heit wiederum nicht, dass wir unsere Hausaufgaben vernachlssigen drfen. Deshalb wre es wirklich wnschenswert, wenn die Union auf der letzten Strecke bis zur Bundestagswahl politischen Pragmatismus beweisen wrde und bei Demokratieschutz und -sicherung mitginge: Das Gesetz fr ein verlssliches Hilfesystem stnde dabei ebenso auf der Liste wie die Erweiterung von Grundgesetz-Artikel 3 wie auch der Schutz der Unabhngigkeit unseres Bundesverfassungsgerichts.
Links zum Thema:
Bundeslagebild Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023
Entwurf eines Gesetzes fr ein verlssliches Hilfesystem bei geschlechtsspezifischer und huslicher Gewalt
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